Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Hito Steyerl<br />
Paris — ‹I will survive› ist der Titel der ersten<br />
grossen Soloschau der Künstlerin und promovierten<br />
Philosophin Hito Steyerl (*1966, München)<br />
im Centre Pompidou. Trotziger Ausruf oder<br />
letzter Seufzer? Seit Anfang der 1990er entfaltet<br />
Steyerl ihr Werk zwischen Widerstand und<br />
Vernichtung. Dass diese seit der Romantik ästhetisch<br />
ausgeformten Pole auch für die binären<br />
Welten des digitalen Zeitalters stehen, legt ihre<br />
Arbeit mit ironischem Witz nahe. Vergangenen<br />
November bot ‹We Will Survive TV› Zugang zum<br />
pandemiebedingt geschlossenen ersten Teil der<br />
Ausstellung im Düsseldorfer K21. Enttäuschend:<br />
Davon gibt’s kein Replay. Bloss 17 Minuten<br />
Podcast auf der Pompidou-Website – und<br />
das ausgerechnet bei einem Werk, in dem die<br />
Künstlerin selbst 2013 doppeldeutig verkündete:<br />
«Internet is all over.» Zum Glück lässt sich<br />
Steyerls unnachgiebiges Nachspüren in den<br />
Tiefenschichten ästhetischer Verstrickungen auf<br />
e-flux nachlesen: mal 2009 als Einsatz für das<br />
‹arme Bild›, verpixelte Abfallprodukte digitaler<br />
Datenarbeit als Ausdruck unsichtbarer Ausbeutung,<br />
dann 2010 kritisch über die ‹Politiken der<br />
Kunst› oder 2011 für die politischen Potenzialitäten<br />
der Schwerelosigkeit ‹In Free Fall›. Wim<br />
Wenders’ einstige Regieassistentin arbeitet sich<br />
durch das, was Medien und deren Verflüssigung<br />
anrichten. Dabei glänzt sie mit filmischem<br />
Einsatz wie Harun Farocki, visuellem Witz wie<br />
Martha Rosler und der Suche nach ‹Wahrheit<br />
in Ruinen›, wie Eyal Weizman mit Forensic Architecture.<br />
Die Arbeit der 2018 mit dem Käthe-<br />
Kollwitz-Preis ausgezeichneten Künstlerin ist<br />
kohärent vielgestaltig: mal schlicht, wie 2007<br />
die monochrom rot strahlenden Bildschirme auf<br />
der Documenta 12, die exakt die Farbe des ‹Red<br />
Alert›, der höchsten Terror-Warnstufe in den USA<br />
reproduzieren. Dann wieder hingegossen wie<br />
die Bilder der dreissigminütigen Videoinstallation<br />
‹Liquidity Inc.›, 2014, die dem Ausspruch<br />
des Kampfsportlers Bruce Lee «Be water my<br />
friend» nachtaucht und zu einer Analyse von<br />
Metaphern, Bildern und Kapitalisierungen<br />
des Wassers im digital-politischen Kontext<br />
führt. Kämpferisch begann Steyerl 2016 mit<br />
der Dreikanal-Video-Installation ‹Hell Yeah We<br />
Fuck Die› an der São Paulo-Biennale mit einem<br />
Konflikt, dem sie biografisch verbunden ist:<br />
die brutale Zerschlagung kurdischen Widerstands<br />
durch die türkische Armee in Diyabakir.<br />
In den Trümmern der Stadt hallt wider, was<br />
die Professorin an der Berliner UdK 2007 zum<br />
Titel des halbstündigen Videos ‹Lovely Andrea›<br />
führte: Unter diesem Pseudonym hatte sie als<br />
19-jährige Filmstudentin des Japan Institute<br />
of the Moving Image in Tokio Bondage-Fotos<br />
aufnehmen lassen. Ihre Reflexion über die Pornografisierung<br />
der Politik ist Andenken an ihre<br />
Studienfreundin Andrea Wolf, der sie nicht in<br />
den bewaffneten Kampf folgte. 1998 ermordete<br />
die türkische Armee die Linksaktivistin. Steyerl<br />
wirkt weiter, ansteckend wie Gloria Gaynors<br />
Song: ‹Oh no, not I, I will survive›. JES<br />
Hito Steyerl · Mission Accomplished: 65 Belanciege,<br />
2019, Dreikanal-Video HD, Farbe, Ton,<br />
47’23’’, Ausstellungsansicht Centre Pompidou<br />
© ProLitteris<br />
Hito Steyerl · I Will Survive, <strong>2021</strong>, Ausstellungsansicht<br />
Centre Pompidou © ProLitteris<br />
→ Centre Pompidou, bis 5.7.<br />
↗ www.centrepompidou.fr<br />
76 <strong>Kunstbulletin</strong> 6/<strong>2021</strong>