Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Warja Lavater<br />
Zürich — Ihren Künstlernamen erhielt sie vom<br />
russischen Kindermädchen – und vielleicht<br />
auch einige der Geschichten, auf die sie<br />
nach Jahrzehnten als erfolgreiche Grafikerin<br />
zurückgreifen konnte. In der Zwischenzeit<br />
war viel passiert: Die in Winterthur geborene<br />
Barbara Esther Lavater (1913–2007) verbrachte<br />
ihre ersten Lebensjahre in Moskau, von wo sie<br />
mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Revolutionsjahr<br />
1917 zurück in die Schweiz floh,<br />
nur um zwei Jahre später für zwei Jahre nach<br />
Athen zu ziehen. Nach der erneuten Rückkehr<br />
in die Schweiz und einem Grafikstudium an<br />
der Kunstgewerbeschule Zürich eröffnete sie<br />
zusammen mit dem damals jungen Schaufensterdekorateur<br />
und ihrem späteren Ehemann<br />
Gottfried Honegger 1937 ein Grafikbüro und<br />
stach kurz darauf mit ihrem Logo-Entwurf<br />
für die Landesausstellung 1939 alle anderen<br />
Konkurrenten aus. Weitere Aufträge folgten:<br />
das Signet für den Bankverein oder eine grosse<br />
Wandmalerei zur Schweizerischen Ausstellung<br />
für Frauenarbeit SAFFA von 1958.<br />
Die aktuelle Ausstellung in der Zentralbibliothek<br />
Zürich streift diese Stationen, richtet den<br />
Fokus aber auf Lavaters Künstlerbücher. In der<br />
‹Schatzkammer› der Predigerkirche reihen sich<br />
die Kostbarkeiten in rot ausgeschlagenen Vitrinen.<br />
Dazwischen macht die grosse Gouache<br />
‹Times Square›, 1959, die Lavater während<br />
eines Aufenthalts in New York gemalt hatte,<br />
deutlich: In den flimmernden Piktogrammen<br />
und Signeten fand sie, was sie in ihrer Kindheit<br />
in drei Sprachräumen und drei Schriftsystemen<br />
vergeblich gesucht hatte: eine visuelle<br />
universelle Sprache. Gleichzeitig stiess sie in<br />
Chinatown auf Leporellos, die auseinandergefaltet<br />
eine fast filmische Erzählweise ermöglichen.<br />
Diese Elemente verschmolz sie zu ihrer<br />
ureigenen Ausdrucksform. Für ihre Geschichten<br />
nutzte sie fortan Faltbücher und eigene Zeichensysteme,<br />
die sie ‹Sing-Song-Signs› nannte:<br />
Punkte, Linien, Raster, Wellen, die zu animierten<br />
Körperteilen, Figuren, Objekten werden<br />
konnten und den Text zum Bild werden liessen.<br />
Den ersten Erfolg feierte Lavater mit dem<br />
1962 vom MoMA herausgegebenen Leporello<br />
‹Wilhelm Tell›. Wie die kompakte Zürcher Schau<br />
nun zeigt, folgten unzählige weitere Faltbücher<br />
und Papierobjekte mit Märchenerzählungen,<br />
bildhaften Reflexionen über das Glück oder mit<br />
kaum entzifferbaren Liebesgeschichten zwischen<br />
daumennagelgrossen Glitzerdeckeln.<br />
Am Schluss des Rundgangs können wir vor<br />
einer Projektionswand Platz nehmen und in<br />
kurzen Filmsequenzen einigen ihrer Geschichten<br />
folgen. Eine läuft beispielsweise so: Der<br />
Jäger (brauner Punkt) kommt aus dem Wald<br />
(endlos viele grüne Punkte), überrascht den<br />
Wolf (grosser schwarzer Punkt), erschiesst ihn<br />
(schwarz-gelb-roter Blitz) und lässt die Grossmutter<br />
(hellblauer Punkt) und das Rotkäppchen<br />
(roter Punkt) unversehrt aus dem toten<br />
Wolf aufsteigen. Und schon sind wir mitten im<br />
wohligen Erschauern, das uns in Kindertagen<br />
so geborgen umfangen hielt. CJ<br />
Warja Lavater · Rotkäppchen, 1960, New York,<br />
Tinte und Gouache (Ausschnitt) © ProLitteris<br />
Warja Lavater · Ein Signal: livre sculpté, 1982,<br />
Paris, Tinte und Gouache über Bleistift<br />
© ProLitteris. Foto: Martin Stollenwerk, SIK-ISEA<br />
→ Zentralbibliothek, Schatzkammer &<br />
Themenraum, bis 19.6. ↗ www.zb.uzh.ch<br />
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