Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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BÜCHER<br />
Tagebücher von A. Giacometti<br />
«Ach das Schönste ist doch malen. Alles andere<br />
ist Geschwätz.» «Ganz still für sich sein und<br />
malen.» «Réaliser.» Und immer und sowieso<br />
der Gedanke der «Selbstverwirklichung», des<br />
«Werde, der du bist», den er auch an den Beginn<br />
seiner Tagebuchaufzeichnungen setzt, datiert<br />
auf den 24. Dezember 1931. Richtig los mit dem<br />
Tagebuch aber geht es erst später, am 1. August<br />
1932, als Augusto Giacometti (1877–1947) sich<br />
wieder einmal in Venedig aufhält und dessen<br />
«goldene Herrlichkeit» in sich aufnimmt. Und<br />
wer ist und wurde er? Etwa ein Maler goldener<br />
Herrlichkeiten? Vielleicht. Nimmt man es<br />
wörtlich, so kann man die «Goldene Herrlichkeit»,<br />
eine kleine, 1923 entstandene Gouache<br />
auf Goldfolie, anführen; nimmt man es im<br />
übertragenen Sinn, so trifft es für sein ganzes<br />
Schaffen zu. Selbst noch ein Grau bringt der<br />
Bergeller Künstler, der sich 1915 endgültig in<br />
Zürich niederliess, zum Leuchten, er, Giacometti,<br />
in dessen Werk «die Wirkungsmacht der<br />
Farbe» im Zentrum steht, wie Caroline Kesser<br />
schreibt, die souveräne Herausgeberin dieser<br />
erstmals publizierten Aufzeichnungen.<br />
Vier Tagebuchhefte, fünf Jahre, 1932 bis 1937.<br />
Manchmal mit täglichen, dann nur gelegentlichen<br />
Eintragungen; es gibt sogar monatelange<br />
Unterbrechungen. Giacometti notiert, was ihn<br />
in seinem Atelieralltag beschäftigt, woran er<br />
arbeitet, was er liest, was ihm in Ausstellungen<br />
auffällt, wer ihm begegnet, wo er mit wem<br />
essen geht. Gegessen wird immer auswärts, in<br />
bekannten Häusern, die zum Teil heute noch<br />
existieren. Giacometti kann es sich leisten, er<br />
gehört längst zu den angesehensten Schweizer<br />
Künstlern und ist mit seinen Fresken<br />
und Glasfenstern auch im öffentlichen Raum<br />
präsent. Einen eigenen Haushalt führt er nicht.<br />
Sein Lebensort ist das Atelier, daneben reicht<br />
ihm ein Zimmer in Untermiete. Oft ist er zudem<br />
als Mitglied der Eidgenössischen Kunstkommission<br />
unterwegs. Und immer wieder muss er<br />
auftanken und nach Paris oder Marseille reisen<br />
und nach Italien mit Florenz, Venedig, Mailand,<br />
Neapel, wo er, so wunderbar sind sie, die<br />
Farben streicheln möchte. Giacometti braucht<br />
den Süden. Braucht ihn, um dem als nüchtern<br />
und fantasielos empfundenen Zürich mit<br />
seiner aufs «Sparkassenbüchlein bedachten»<br />
Bürgerlichkeit und «Sekundarlehrermentalität»<br />
etwas entgegenzuhalten: die «Güte», immer<br />
wieder. «So viel Güte strahlt der Süden aus.»<br />
Und Frieden und Gelassenheit. So will Giacometti<br />
selbst sein, als Mensch und als Künstler.<br />
«Freude bringen, Glück und Sonne. Das Trübe<br />
überwinden.» Oder, wie es der Buchtitel zitiert:<br />
«Man sollte immer nur das Paradies malen.»<br />
So unspektakulär sich die Tagebücher auf<br />
den ersten Blick zeigen – denn dass einer wie<br />
Giacometti sein Liebesleben erfolgreich mit<br />
käuflicher Liebe gestaltet, ist, wie auch sein<br />
Frauenbild, eher eigenartig als spektakulär,<br />
nicht anders sein politisches Desinteresse –,<br />
so aufschlussreich sind sie spätestens auf den<br />
zweiten Blick. Wie er auf sehr direkte, unprätentiöse<br />
Art über Abstraktion und Erinnerung<br />
schreibt, wie er Sinnlichkeit und Instinkt über<br />
den Intellekt stellt, wie er von seinem Schaffen<br />
spricht als einem Wechsel von Eindruck – «der<br />
Natur entgegenkommen» – und Ausdruck –<br />
«Komponieren», «Man ist ein Herrgott im<br />
Kleinen» –, das allein schon lohnt die Lektüre<br />
des schön gestalteten, schön illustrierten und<br />
mit einer klugen Einführung versehenen Bandes.<br />
Angelika Maass<br />
Immer nur das Paradies. Augusto Giacometti –<br />
Die Tagebücher 1932–1937, herausgegeben<br />
und kommentiert von Caroline Kesser,<br />
Scheidegger & Spiess, 280 Seiten, 84 Farbund<br />
14 SW-Abb.<br />
NOTIERT // DIES UND DAS — BÜCHER 131