Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Europa auf Kur<br />
Nürnberg/Davos — Förmlich gefesselt fühlt<br />
man sich hier, umgeben von Leidensgenossen<br />
und eingebunden in einen lückenlosen<br />
Tagesplan: Eine brutale Lungenkrankheit<br />
wütet in einem sich politisch destabilisierenden<br />
Europa, befällt Arme wie Reiche und tötet<br />
Infizierte in grosser Zahl. Die Behandlungsmethoden<br />
reichen von pragmatisch (Sammeln der<br />
infektiösen Spucke in kleinen Fläschchen) bis<br />
abenteuerlich (Aufbrechen des Brustkorbs und<br />
absichtliches Kollabierenlassen der Lunge);<br />
die klare Davoser Bergluft, das scheint sich zu<br />
bestätigen, setzt der Tuberkulose zumindest<br />
etwas Nennenswertes entgegen. Der kleine<br />
Luftkurort am Ende der Welt, von Ernst Ludwig<br />
Kirchner begeistert gemalt, von Thomas Mann<br />
im ‹Zauberberg› unsterblich gemacht, durch<br />
Albert Einstein zum Treffpunkt einer globalen<br />
Friedensbewegung geadelt, blickt auf eine<br />
unwahrscheinliche Geschichte zurück, die<br />
jetzt Thema einer Ausstellung ist: Davos, das in<br />
den 1870er-Jahren noch als Reisegeheimtipp<br />
gelten muss, entwickelt sich in den folgenden<br />
Jahrzehnten zu jenem legendären Alpenkur-<br />
In-Place, in dem Arthur Conan Doyle Teile<br />
seiner Sherlock-Holmes-Romane ergrübelt und<br />
man den Philosophen Martin Heidegger beim<br />
Skifahren sichten kann, während man durch die<br />
Eisenbahnlinie komfortabel direkt an das europäische<br />
Streckennetz angeschlossen ist.<br />
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleicht der europäische<br />
Kontinent einem Tollhaus, aufgewühlt<br />
von Erstem Weltkrieg, Russischer Revolution,<br />
Spanischer Grippe und Weltwirtschaftskrise.<br />
Über die illustren Kurgäste spiegelt diese<br />
Stimmung sich auch in Davos wider: Grell sind<br />
die Farben in Ernst Ludwig Kirchners Gemälde<br />
‹Sertigtal im Herbst›; die Natur scheint gleichermassen<br />
üppig und steril und die Menschen wie<br />
Totempfähle in den blau-violetten Zaun gesetzt,<br />
unwirklich und betörend winden fliederfarbene<br />
Pfade sich durch zerschrundene Bergtäler.<br />
Die surreale Gegenwelt von Thomas Manns<br />
1924 publiziertem ‹Zauberberg› scheint hier<br />
bildlich dargestellt und auch tiefer Ausdruck<br />
von Kirchners hochemotionalem Innenleben zu<br />
sein: Fünf Jahre nach der Machtübernahme der<br />
Nationalsozialisten, die den Maler nicht nur als<br />
«entarteten Künstler» brandmarken, sondern<br />
auch zunehmend den Kurort als Kriegslazarett<br />
und Rehabilitationszentrum vereinnahmen,<br />
wählt Ernst Ludwig Kirchner, der erfolgreiche<br />
Künstler und moderne Avantgardist, nahe dem<br />
Kurort den Freitod. So ist Davos Sehnsuchtsort<br />
und Folterkammer, Metropole und Provinz,<br />
Sportstätte und Musengipfel zugleich, und all<br />
diese Ebenen kann man am eigenen Leib erfahren<br />
in der Ausstellung ‹Europa auf Kur›, die von<br />
«Ernst Ludwig Kirchner, Thomas Mann und dem<br />
Mythos Davos» erzählt. MAW<br />
Wintersport in Graubünden, Zürich, 1907, Entwurf:<br />
Walther Koch, Farblithografie, 100 x 70 cm,<br />
Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg<br />
Ernst Ludwig Kirchner · Sertigtal im Herbst,<br />
Davos, 1925/26, Öl auf Leinwand, 136 x 200 cm,<br />
Kirchner Museum Davos<br />
→ Germanisches Nationalmuseum, bis 3.10.<br />
↗ www.gnm.de<br />
→ Kirchner Museum Davos, Davos,<br />
28.11.–30.10. ↗ www.kirchnermuseum.ch<br />
HINWEISE // LUZERN / NÜRNBERG/DAVOS<br />
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