Kunstbulletin Juni 2021

Lutz & Guggisberg
Luzern — Im September 2020 hat sich das
Künstlerduo Lutz & Guggisberg (seit 1996 eine
Produktionsgemeinschaft) mit hinterhältigverqueren,
aber fein säuberlich auf klassische
Sockel gestellten Skulpturen in die Sammlung
des Kunstmuseums Winterthur eingeschrieben
und so einen neuen Blick auf die Klassische
Moderne erschlossen. Ihre subversive Ordentlichkeit
haben sie in der Installation ‹Vergleichende
Komparatistik› beibehalten, in der
sie tief in die Welt des Buches blicken lassen.
Sie breiten auf Tischen und Regalen rund 500
Buchobjekte aus und richten in einem Raum
eine Art Literatur-Stall ein mit aufgeschüttetem
Stroh und schummriger Beleuchtung,
die das Lesen nur knapp gestatten würde.
«Würde»: Die ‹Bücher› sind Sperrholz-Objekte.
Da ist nichts zwischen den schön gestalteten
Titelseiten und den Buchrücken mit kurzen
Texten zum Inhalt – eine absurde Situation,
denn Bücher, die man nicht öffnen und lesen
kann, sind keine Bücher. Der Gang durch diese
Gedenkstätte wird vor allem für gebildete
Büchernarren zum Abenteuer. All die Autorennamen,
Buchtitel, Cover-Gestaltungen, Verlage
erinnern uns an etwas – doch an was genau?
Alles zielt haarscharf daneben. Ein paar
Beispiele: Schrieb Alice Vollenweider wirklich
ein Kochbuch über alte Meeresfrüchte und
Heimito von Doderer einen Roman ‹Der Bock›?
Seit wann heisst Hebel mit Vornamen Friedrich
und Hebbel Johann Peter? War H.C. Artmann
auch Ornithologe? ‹Die Schloebiusmeife› lautet
der Titel einer Anthologie mit phantastischer
Literatur aus Lateinamerika, deren Buchdeckel
eine aufgelöste Moebiusschleife ziert. Walo
Bertschinger gibt es – aber gibt es ihn auch als
Autor von ‹Wie baue ich mir meine spirituelle
Zukunft›? Den Volkskundler Hanns Bächtold-
Stäubli gab’s auch, doch schrieb er neben dem
berühmten ‹Handwörterbuch des deutschen
Aberglaubens› auch ‹Sautanz und Reigen der
March›, erschienen in der Druckerei Mächler
in Siebnen? In der gleichen Druckerei soll
‹Schlecksteine› von Lingam und Yoni Schuler
publiziert worden sein.
Seit mehr als 20 Jahren treiben Lutz & Guggisberg
dieses ihr Projekt voran. Jetzt breiten
sie es zum Vergnügen des nachdenklichen
Publikums erstmals als Ganzes aus. Berühren
ist, ungewohnt für eine Galerie, ausdrücklich
nicht verboten. Mit drei Ausnahmen sind alles
Fantasiestücke der Künstler-Grafiker-Texter. Es
ist ein Vorhaben voller ernst gemeintem Witz.
Jedes Detail ist sorgfältig überlegt und zugleich
voller Ironie. Optische und inhaltliche Purzelbäume
sind programmiert. Vertieft man sich in
Grafik, Titel und Inhaltsangaben, so eröffnen
sich Beziehungen hierhin und dorthin in die
ganze Kultur- und Geistesgeschichte hinein.
Nicht einmal die Bibel fehlt – als ‹Überarbeitete
Fassung 2000›. Bestandteil des Projekts ist ein
dickes schweres Künstlerbuch mit allen Covers
und allen Texten. NO
Lutz & Guggisberg · Alles Felle seltener Tiere/
Rare Animals’ Furs All, 2000/2021, Ausstellungsansicht
Galleria Periferia © ProLitteris
→ Galleria Edizioni Periferia, bis 26.6.
↗ www.periferia.ch
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