Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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Goethe und Josef Albers die Gewissheit vermittelt, dass im Bereich der Farbtheorie<br />
eine geschärfte Wahrnehmung durch ein geduldiges, vergleichendes Sehen und so<br />
etwas wie Hören unabdingbar ist.<br />
Für die Installation im CHUV hat Mireille Gros eine breite Palette an geradezu konträren<br />
Farbklängen erprobt. Um Frühlingsfrische in den stollenartigen Durchgangsraum<br />
zu bringen, hat sie in die Auswahl an Zeichnungen von 2019–<strong>2021</strong> eine zweite<br />
Serie in Leuchtfarben eingestreut. Die grellen Riesenkelche setzen nun zwischen den<br />
in satten Fleischfarben, tiefen Wassertönen oder auch namenlosen Erdnuancen gehaltenen<br />
Blättern überraschende Akzente. Wider Erwarten bringt diese Kombiantion<br />
das umfangreiche Spektrum der Kolorierung von Mireille Gros geradezu zum Tönen.<br />
Figurative und metaphorische Sprache<br />
Es ist deshalb nicht paradox, wenn die Künstlerin behauptet: «Es beruht alles<br />
auf Beobachtung», und nur zwei Minuten später: «Meine Arbeit ist vollkommen abstrakt.»<br />
Es geht ihr um die Erzeugung einer zweiten Natur, die idealerweise die erste<br />
Natur nicht nur vertritt, sondern erreicht – wie dies etwa Leonardo wiederholt formuliert<br />
hat, der ebenfalls in ihrer selektiven Bibliothek vertreten ist.Viele der Zeichnungen<br />
von Mireille Gros wären ausserhalb ihres Werkzyklus ‹TFPD› kaum mit Flora zu<br />
verbinden. Man könnte sie etwa als Essais zu einer unerschöpflichen Vielfalt urtümlicher<br />
Gesten auf dem Weg zum Bild oder zur Schrift verstehen.<br />
Mireille Gros stellt ihr Œuvre, ähnlich wie Kunstschaffende seit der Renaissance<br />
und dann vor allem von der Art Nouveau bis zur Arte povera, in eine nicht nur äussere,<br />
sondern innere Analogie zur Natur. Und zwar sowohl aus der eigenen bei ihr in die<br />
Hügel und die Gewässer des Freiamts zurückführenden Erfahrung als auch auf Basis<br />
wissenschaftlicher Erkenntnisse. Insofern bedeutete das ihr reifes Werk begründende<br />
Transzendenzerlebnis im Primärwald 1993 an der Elfenbeinküste nicht nur<br />
Vertiefung, sondern auch Öffnung: Sie erhielt Einsicht in menschlich kaum berührte<br />
Lebensräume, in denen sich während Jahrmillionen eine unendlich dichte, nicht<br />
zuletzt auch visuell überwältigende und bezaubernde Artenvielfalt entwickelt hatte,<br />
während sich in unseren Kulturlandschaften oft nur noch einige wenige Pflanzen und<br />
Tiere um die Dominanz streiten. Heute führende Evolutionsfachleute wie etwa Joan<br />
Roughgarden betonen auf der Basis solcher Vergleiche die eigentliche Interdependenz<br />
zwischen den Arten und die Bedeutung multimorphologischer Anpassungsfähigkeit<br />
und ermessen dieses Prinzip generell als effizienteres, dauerhafteres Modell<br />
als das darwinsche Konzept des «Survival of the Fittest».<br />
Kopfgeburten und Naturbegegnung<br />
Die Metaphern des Lebens und des Neubeginns im Werk von Mireille Gros bewogen<br />
Karine Tissot, Gros’ Ausstellung ins Zentrum der Reihe der Frühlingspräsentationen<br />
zu stellen. Hatte ihre Vorgängerin Caroline de Watteville Kunstausstellungen<br />
im Empfangsbereich und Sammlungstätigkeit im Spital von 1990 bis 2018 pionierhaft<br />
verankert, versucht die jetzige Spitalkuratorin, mit einem weiter ausgreifenden Pro-<br />
FOKUS // MIREILLE GROS<br />
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