Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
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gramm dezidiert verschiedene Facetten der Institution zu beleuchten, in der 13’000<br />
Mitarbeitende pro Jahr 50’000 Patientinnen und Patienten behandeln. Mireille Gros<br />
ist nun zusätzlich zur Installation im Entrée mit zwei Gemälden im Patientenhotel<br />
sowie mit ihren seit den 1980er-Jahren geführten Alben, den ‹Archives intimes›, in<br />
der Medizinbibliothek präsent. Vier jüngere Kunstschaffende – Laura Thiong-Toye,<br />
Anaëlle Clot, Pascal Aeschlimann und Julien Raboud – ziehen mit ihren Auftritten in<br />
der Stadt, im Kinderspital sowie in zwei Psychiatriestationen mögliche Beziehungen<br />
zum Vegetabilen weiter. Die Ausstellungen bilden gemeinsam ein Echo auf eine bewährte<br />
therapeutische Praxis im Spital. So werden psychiatrische wie auch aus dem<br />
Koma erweckte Patienten in die artenreichen spitaleigenen Gärten geführt, die ihnen<br />
das Heraustreten aus sich selbst erleichtern.<br />
Naturbegegnung ist für den Menschen unerlässlich, um den eigenen, oft bornierten,<br />
ja mitunter blindwütigen Kopfgeburten zu entrinnen. Mireille Gros versteht ihr<br />
ganzes Werk als Antithese zu einer linearen Produktion von der Idee zur Form oder<br />
von der Konzeption zur Realisation, die nur zu Sterilem führt. Leider unterliegt selbst<br />
die Kultur aufgrund ihrer diversen Rechenschaftspflichten heute zunehmend solchen<br />
Zwängen. Dabei bräuchte sie Freiräume, in denen sich Leben und Arbeit täglich<br />
von Neuem zu Philosophie und Poesie verbinden können.<br />
Beständigkeit und Geburtlichkeit<br />
Das Œuvre von Mireille Gros erscheint fast wie eine bildliche Erläuterung der<br />
Philosophin und Politologin Hannah Arendt. Deren wohl wesentlichster Beitrag ist<br />
die Befreiung aus dem westlichen Kreisen um Mortalität zugunsten eines Bewusstseins<br />
für die Natalität als «Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt». Dabei<br />
weist Hannah Arendt den Kunstschaffenden eine entscheidende Rolle zu: «Die Einzigen,<br />
die noch an die Welt glauben, sind die Künstler. Die Beständigkeit des Werks<br />
spiegelt den beständigen Charakter der Welt. Sie können es sich nicht leisten, der<br />
Welt fremd zu sein. Die Gefahr liegt darin, die Welt zu vertreiben, d.h. die Oasen in<br />
Wüste zu verwandeln.»<br />
Aussagen der Künstlerin stammen aus Telefongesprächen im Vorfeld der Ausstellung und einem Besuch in<br />
situ am 20.4.<strong>2021</strong>.<br />
Katharina Holderegger, Kunsthistorikerin, Kritikerin und Kuratorin, lebt mit ihrer Familie am Genfersee.<br />
kholderegger@hotmail.com<br />
→ ‹Pour un herbier – 7 expositions printanières›, dreiteilige Ausstellung, mit Mireille Gros, Laura<br />
Thiong-Toye, Anaëlle Clot, Pascal Aeschlimann, Julien Raboud, im Rahmen der Saison ‹En herbier› des<br />
Programms VU.CH im CHUV – Centre hospitalier universitaire vaudois und weiteren Ausstellungsorten,<br />
Lausanne, bis 25.6. ↗ www.vu.ch<br />
FOKUS // MIREILLE GROS<br />
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