Kunstbulletin Juni 2021
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Die Kunstbulletin Juni-Ausgabe 2021. Mit Beiträgen zu: Renée Levi, Olafur Eliasson, Mireille Gros, Franz Erhard Walther uvm.
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Ensor – Picasso. Maskeraden<br />
Winterthur — Für manche Künstler nach ihm<br />
steht fest, dass die wahre Moderne nicht in<br />
Paris begonnen hat, sondern in Ostende und<br />
den 1880er-Jahren, in denen Ensor seine<br />
bedeutendsten Werke schuf – allen voran die<br />
grossen Gemälde wie ‹Christi Einzug in Brüssel›,<br />
‹Die Vertreibung aus dem Paradies› oder<br />
‹Der Fall der rebellischen Engel›. James Ensor<br />
(1860–1949), der Aussenseiter und Ausnahmekünstler,<br />
und der eine Generation jüngere<br />
Picasso: Die beiden Meister der Moderne, der<br />
Belgier und der Spanier, begegnen sich zum<br />
ersten Mal in einer Ausstellung, wie Kurator<br />
David Schmidhauser betont. Ihre Begegnung<br />
steht im Zeichen der Maskerade und wurde<br />
geplant, lange bevor wir alle zu einem Volk von<br />
Maskenträgern mutierten.<br />
Unter der Maske zeigt der Mensch sein wahres<br />
Gesicht. Die Menschen sind Marionetten auf<br />
der Bühne des Lebens. Hinter der Maskerade<br />
verbirgt sich Dummheit, Bosheit, Grausamkeit,<br />
Irregeleitetsein – und immer wieder der Tod.<br />
Ensors entlarvende Darstellungen brechen<br />
Tabus, machen vor nichts Halt, und die Finde-Siècle-Visionen<br />
des «Malers der Masken»<br />
schreien zum Himmel. Wenn man genau<br />
hinschaut – was zwingend ist, denn bei der<br />
Mehrzahl der rund 75 Exponate handelt es sich<br />
um grafische Blätter, bei Ensor zudem oft um<br />
kleine Formate und/oder regelrechte Wimmelbilder<br />
–, entdeckt man so manche Ungeheuerlichkeit.<br />
Münder, aus denen gespien, nackte<br />
Hintern, aus denen geblasen und gekackt wird.<br />
Manches mutet blasphemisch an, ironisch gebrochen,<br />
gerade bei Christusdarstellungen, in<br />
denen Christus Ensors, des Verkannten, Unverstandenen,<br />
Züge trägt. Da gibt es den ‹Christus<br />
von Dämonen gequält› mit teuflischen Gestalten,<br />
Skeletten, Masken, höllischem Treiben; ein<br />
Ungeheuerchen macht dem Gekreuzigten auf<br />
die linke Hand, einem Christus ohne Lendentuch,<br />
mit entblösstem Geschlecht. Da gibt es<br />
auch geradezu apokalyptische Schaustücke<br />
wie ‹Hop-frogs Rache› oder ‹Der Tod verfolgt die<br />
Menschenherde›, neben berühmten Blättern<br />
wie ‹Die Kathedrale› und ‹Dämonen, die mich<br />
quälen›. So wild und schrill, so beängstigend<br />
und symbolisch-allegorisch aufgeladen das<br />
alles ist: Es ist auch ausgesprochen unterhaltsam.<br />
Und mitunter werden hellere Töne<br />
angeschlagen, wie die farbigen Entwürfe zu<br />
Ensors Bühnenstück ‹La Gamme d’Amour› und<br />
einige Ölgemälde beweisen. Aus der Beirrung<br />
aber findet man nicht heraus.<br />
Picassos Beitrag zum aufschlussreichen Dialog<br />
zwischen zwei Künstlern, die zeitlebens an<br />
Masken, Maskerade und Formen der Selbstinszenierung<br />
interessiert waren, liest sich<br />
vergleichsweise einfacher. Seine intimen, von<br />
einem melancholischen Grundton getragenen<br />
Gauklerdarstellungen von 1905 stehen am Anfang<br />
der Schau. Blätter aus der ‹347 Suite› von<br />
1968 beschliessen sie: Da scheint das pralle<br />
Leben auf, lustvoll, frech – ein Augenspiel. AMA<br />
James Ensor · Die Masken und der Tod, 1898,<br />
Wasserfarben und Deckfarben auf Papier,<br />
Blattmass: 62 x 47,5 cm, Bildmass: 52 x 38 cm,<br />
Kunst Museum Winterthur, Stiftung Oskar<br />
Reinhart<br />
→ Kunst Museum Winterthur | Reinhart am<br />
Stadtgarten, bis 20.6.<br />
↗ www.kmw.ch<br />
78 <strong>Kunstbulletin</strong> 6/<strong>2021</strong>