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100 Probefahrt<br />
≥ de das Album zusammen mit seinem<br />
Schnöselkumpel Miles Kane von The Rasc<strong>als</strong><br />
innerhalb von wenigen Wochen irgendwo<br />
in der französischen Provinz aufgenommen,<br />
bestimmt unweit der Grenze<br />
zu den Staaten, in denen es Marihuana<br />
frei zu kaufen gibt. Dabei kann doch nur<br />
ein Album voll mit plumpem Vollrock oder<br />
pickeligen Insiderwitzen herauskommen.<br />
Könnte man denken.<br />
Die Wahrheit sieht ganz anders aus.<br />
Denn »The Age Of Understatement« ist<br />
ein Volltreffer, durchgehend groß und<br />
sogar noch deutlich hintersinniger <strong>als</strong><br />
alle Arctic-Songs zusammen. Völlig intuitiv<br />
und ohne großen Vorlauf leben die<br />
beiden 22-Jährigen ihren Sinn für opulent<br />
produzierten Pop der 1960er und -70er<br />
aus, spielen den routinierten Crooner,<br />
den Gentleman und generösen Liebhaber.<br />
So frisch wie lange niemand lassen<br />
sie den souligen Pop des Electric Light Orchestra,<br />
des frühen Scott Walker, Lee Hazelwood<br />
oder sogar Van Dyke Parks aufleben.<br />
Vielleicht nicht ganz so ausgefeilt wie<br />
Letztgenannte, aber trotzdem ungemein<br />
wirkungsvoll. Sie haben geschmackvolle<br />
und voll klingende Arrangements hinbekommen<br />
und sich ein Dutzend Mal neu<br />
erfunden. Sie haben eine Geschmeidigkeit<br />
entwickelt, die selbst Jarvis Cocker in<br />
den Schatten stellt. Sie machen das alles<br />
fast ganz allein, nur James Ford hilft <strong>als</strong><br />
Produzent und Drummer, außerdem noch<br />
Owen Pallett (Final Fantasy) bei den Geigenarrangements,<br />
und der ist auch der<br />
Einzige, den man in dieser Konstellation<br />
hätte erwarten können. Alles andere ist<br />
schier unfassbar. Allein schon die völlig<br />
überraschenden Elder-Statesmen-Qualitäten,<br />
die speziell der Gesang Turners<br />
hier offenbart. »The Age Of Understatement«<br />
ist eine Platte, die die Parameter<br />
des zeitgenössischen Pop umzustellen<br />
in der Lage ist. Bei Gott, ich werde diesen<br />
kleinen Bengel nie mehr unterschätzen.<br />
Christian Steinbrink<br />
Udo Lindenberg<br />
Stark wie Zwei<br />
Starwatch / Warner<br />
Ein gutes Album braucht vor<br />
allem eins: Recherche. Und<br />
gute Recherche braucht:<br />
Zeit. Insofern ist es Unsinn<br />
anzunehmen, Udo Lindenberg sei seit seinem<br />
letzten erträglichen Album (»Götterhämmerung«,<br />
1984) irgendwie abgelenkt<br />
gewesen. In geheimer Mission pflegte er<br />
seine Kontakte zur Unterwelt (ist mit der<br />
internationalen Kiezgröße Gerhard Schröder<br />
bekannt), erlitt einen Infarkt, kümmerte<br />
sich um seinen Spiegel (Bestwert:<br />
4,7 Promille) und tappte, weil man sich im<br />
Dienste der Erkenntnis zu keiner Sekunde<br />
selbst schützen darf, in selbst gestellte<br />
Rockstarfallen (Liköraquarelle). Brauchbare<br />
Songs ließen sich so natürlich nicht<br />
verfertigen, weil es im Falle Lindenbergs<br />
dazu erforderlich ist, den Nachtschlaf unterm<br />
Mischpult liegend nachzuholen, weil<br />
sonst irgendwelche Humpes und Ströer<br />
Brothers unbeobachtet Robotersound<br />
und Computerklänge zusammenhauen<br />
(was sie dann auch taten). Nun kommt Lindenberg<br />
endlich erneut der Aufforderung<br />
nach, die »Gerhard Gösebrecht« erstm<strong>als</strong><br />
1974 aussprach: dem Kosmos-Rock Einhalt<br />
zu gebieten. »Stark wie Zwei« ist ein<br />
typisches Lindenberg-Werk, das um Grauenhaftes<br />
(»Der Deal« mit Duett mit der<br />
Tante von Silbermond) und Mittelmäßiges<br />
(»Wenn du durchhängst«) Monumentales<br />
versammelt (»Chubby Checker« mit Helge,<br />
»Der Greis ist heiß«). Und das Ergebnis<br />
der Recherche? Nun – Alkohol: schlimm<br />
(»Woddy Woddy Wodka«). Aber, wie es das<br />
unmittelbar nachfolgende Stück »Nasses<br />
Gold« erläutert: unverzichtbar. Das sind<br />
Erkenntnisse, die jedem von uns noch viel<br />
nützen werden. Boris Fust<br />
Lyrics Born<br />
Everywhere At Once<br />
Anti- / SPV<br />
Bay-Area-Rapper Lyrics Born<br />
a.k.a. Tom Shimura loves the<br />
funk. Heavy, upbeat, bouncy<br />
soll er sein, damit auch der<br />
letzte Indie-Rapper endlich seinen lahmen<br />
Underground-Hintern bewegt. Lyrics<br />
Born rappt und singt und scheut auch<br />
nicht vor sehr sweeten Melodie-Refrains<br />
zurück, um eine möglichst große Party-<br />
Crowd zu pleasen, Live-Instrumentierung<br />
bringt den 70s-Funk-Flavour dabei<br />
besonders zur Geltung. Dass bei so viel<br />
unprätentiösem »Spaß« relevante Themen<br />
wie Selbstbehauptung, Identitäts-<br />
und Beziehungspolitiken verhandelt werden,<br />
macht den Asian-American MC mit<br />
der prägnanten Stimme auch nach der<br />
Party interessant. »Do you buy it?«, fragt<br />
er denn auch mal keck – und angesichts<br />
der Booty-shakenden Party-People fällt<br />
die Antwort wohl eindeutig aus.<br />
Vina Yun<br />
The Mohawk Lodge<br />
Wildfires<br />
White Whale / Al!ve<br />
Album Nummer zwei. Mit<br />
»Wildfires« veröffentlicht<br />
das kanadische Quartett<br />
eine Platte, deren Aura fast<br />
durchgehend zwischen Melancholie und<br />
Mitreißen flimmert. Auf den neun Stücken<br />
hofiert Sänger, Gitarrist und Songwriter<br />
Ryder Havdales die leiderfüllte Stimme<br />
über alle Höhen und Tiefen der Melodien<br />
– und erinnert damit nicht nur zeitweilig<br />
an die Kings Of Leon. Trotz der getragenen<br />
Stimmung verbirgt sich hinter fast<br />
jedem Song feiner Indie-Folk-Rock, der<br />
sich gelegentlich von zarten Frauenstim-<br />
men durchzogen sieht – und wenn es die<br />
Dramaturgie erfordert, setzen auch noch<br />
Bläser ein. Ein Album <strong>als</strong> angebrachte<br />
Maßnahme für oder gegen einen kalten<br />
Winter. Elena Grunwald<br />
Mystery Jets<br />
Twenty One<br />
Beggars / Indigo<br />
Im letzten Jahr sah es noch<br />
so aus, <strong>als</strong> wären die Mystery<br />
Jets im wahrsten Sinne<br />
des Wortes kopflos geworden:<br />
Mit dem Ausstieg Henry Harrisons,<br />
dem Gitarristen und Vater (!) von Sänger<br />
Blaine, waren die Newbies plötzlich auf<br />
sich selbst gestellt. Sie taten dann aber<br />
das, was in so einer Situation eben das<br />
Beste ist: Sie haben crewmäßig aufgestockt<br />
und ästhetisch ausgemistet. Hinzu<br />
kam Erol Alkan, und mit ihm entstand<br />
ein wesentlich reduzierteres und konzentrierteres<br />
Album <strong>als</strong> das progrockige Debüt<br />
»Making Dens«. »Twenty One« klingt<br />
zwar beim ersten Durchhören wie ein weiteres<br />
Machwerk irgendeiner englischen<br />
Jungsband, die sich an Retrosound versucht,<br />
nach und nach entfaltet sich die<br />
Schönheit der Musik aber immer deutlicher:<br />
Gleichzeitig catchy und komplex,<br />
rührselig und zurückgenommen, poppig<br />
und speziell klingt ihr neuer Sound. Blaine<br />
singt, quakt und trällert dazu über Liebe,<br />
Angst und andere Dramen des jungen Lebens.<br />
Kitsch und Wahrheit ergänzen sich<br />
in den Texten, so wie auf »Twenty One«<br />
überhaupt alles perfekt zueinander findet,<br />
so sparsam an Effekten und gleichzeitig<br />
detailreich, dass man nur staunen<br />
kann. Nina Scholz<br />
Neva Dinova<br />
You May Already Be Dreaming<br />
Saddle Creek / Indigo<br />
Gibt es eigentlich noch den<br />
Begriff Alt.Country? Schon<br />
länger nicht mehr gehört,<br />
aber unter dem Einfluss von<br />
»You May Already Be Dreaming« ist man<br />
sich zumindest sicher, dass die Musik hinter<br />
der Bezeichnung noch existiert. Diese<br />
Westernzither prägt die Klang-Ästhetik,<br />
die Moll-Melancholie bestimmt jegliche<br />
Stimmung. Gut gemacht, aber auch ein<br />
ziemliches Werk des Formalismus, das<br />
bewusst den Genre-Kanon nicht bricht,<br />
sondern ihm bis zur Selbstaufgabe dient.<br />
Für Puristen demnach ein Geschenk, für<br />
den Rest ein wenig zu tunnelig in Text und<br />
Ton. Sandra Brosi<br />
Nneka<br />
No Longer At Ease<br />
Yo Mama / Four / SonyBMG<br />
Schon vor drei Jahren beeindruckte<br />
Nneka Soulund<br />
R’n’B-Fans mit ihrem<br />
Debüt album »Victim Of<br />
Truth« nachhaltig. Mit dem Nach- ≥