Toshiharu Ito Die Vierte Dimension der Wahrnehmung: Neue Koordinaten für japanische zeitgenössische Kunst The Fourth Dimension of Perception: New Coordinates for Japanese Contemporary Art
Japan war bereits seit der Meiji-Restauration im Jahre 1868 jenes asiatische Land, das sich am schnellsten modernisierte, doch nach dem Zweiten Weltkrieg brachten neuerliche Veränderungen eine nie da gewesene, von Geschwindigkeit berauschte Welt der Rekorde mit sich. Dennoch haben sich die Japaner, ihrer Gesellschaft der Geschwindigkeit und des Wandels zum Trotz, ein unwandelbares Körpergefühl und eine Bodenständigkeit erhalten. Während die Geschwindigkeit den Kern der Wahrnehmung bildet, ruft die Zeit gleich einer Mauer eine starke körperliche Reaktion hervor. Dieses Körpergefühl macht sich eher als Trägheit bemerkbar. Die Aufmerksamkeit richtet sich erstmals auf die inneren Vorgänge beim Verstreichen der Zeit, wobei die Trägheit besondere Beachtung erfährt. Die Verzögerung, welche der Geschwindigkeit entkommen ist, scheint mit dem Wesen der japanischen Wahrnehmung oder dem kollektiven Unbewussten Japans eng verbunden zu sein. Wird aber die Verzögerung Schritt für Schritt weiter ausgedehnt, stößt sie schlussendlich in den Bereich der Zeitlosigkeit vor. Geschwindigkeit und Verzögerung – Japan lebt diese beiden Extreme zur gleichen Zeit und verkörpert ihren Dualismus in vielfältigen Verhaltensweisen. Auch die japanische Kunst hat sich von der Mitte des 20. bis ins 21. Jahrhundert dem „Geschwindigkeits-Raum“ des rasanten Wandels gestellt und dabei diesem Dualismus Ausdruck verschafft. In gewissem Sinne könnte es sogar sein, dass das Sich-Hindurchwinden durch die doppelte Struktur der Wahrnehmung zu einem entscheidenden Faktor geworden ist, der der japanischen Kunst ihren besonderen Charakter verleiht. Verschmelzungen von heftig bewegten Dingen und unbeweglichen Dingen, vielfältige Verdrehungen des Realitätssinns, anti-perspektivische Deformationen und Krümmungen, Materialisierungen eines besonderen Gedächtnisses, der geschärfte Sinn gegenüber dem leeren Raum, Blickpunkte, die Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig erfassen, Wechselspiele von Realität und Illusion, usw., usw. – vielleicht sind es diese Gesten, aus denen die Charakteristika der japanischen Kunst entstanden sind und die der japanischen Kunst ihre besondere Identität verleihen. Die Ausstellung Chikaku – Zeit und Erinnerung in Japan stellt sich in den Strom der japanischen Gegenwartskunst aus einem halben Jahrhundert und versucht, aus vielfältigen Blickpunkten die heutige Bedeutung der genannten Charakteristika der japanischen Kunst zu ergründen. Zunächst möchte ich mich einem der Ausgangspunkte der japanischen Gegenwartskunst zuwenden. Beginnen wir mit einer bestimmten Fotografie von Taro Okamoto (1911–1996), der, obwohl in der westlichen Kunstwelt weitgehend unbekannt, in Japan mittlerweile zu den Begründern der zeitgenössischen Kunst gezählt wird. Es handelt Toshiharu Ito 16 17 Starting from the 1868 Meiji Restoration, Japan modernised earliest and most rapidly among the nations of Asia; especially since World War II, Japan has undergone unparalleled transformations and brought forth new economic realities with record speed. Yet despite these rapid changes, the Japanese still preserve their own physically and culturally grounded way of life. Speed is in perception, even as our bodies run up against the time barrier and recoil sharply, giving us a physical sense rather of slowness, of duration. Within such experiential time, we tend to stress those things first internalised, and therein the significance of duration is most keenly noticed. The escape from speed into extensive time bears deeply upon quintessential Japanese perceptions and collective unconsciousness, slowing ever further asymptotically toward timelessness. Speed and perpetuity: two coexistent poles of the Japanese psyche, a duality embodied in diverse gestures and behaviours. Japanese art has also confronted the rapid changes of late twentieth to twenty-first century speed-space, and brought forth many expressions of this duality. Indeed, the view through such dyadic perceptual structures would seem to constitute a major distinguishing factor in Japanese art. The fusion of vibrant flux with the immutable into a vertiginous sense of multi-layered being, the counterperspective transformations and distortions, the material register of memory, the keen focus upon voids and negative space, the simultaneous pastpresent vision, the interplay of reality and fantasy – these special characteristics, the very identity of Japanese art may well derive from the multi-mode manner in which the Japanese live. This exhibition examines from various viewpoints these special characteristics of Japanese art over the last fifty years in order to discover their renewed meaning today. Hereupon, I would first like to trace one of the origins of Japanese contemporary art. Let us begin with one photographer: although largely unknown abroad, surely one of Japan’s most important contemporary artists was Taro Okamoto (1911–1996), who in 1956
- Seite 2 und 3: Chikaku Zeit und Erinnerung in Japa
- Seite 4 und 5: Kunsthaus Graz am Landesmuseum Joan
- Seite 6 und 7: 6 Christine Frisinghelli, Peter Pak
- Seite 8 und 9: Christine Frisinghelli, Peter Pakes
- Seite 10 und 11: Japanischer Paravent aus dem 17. Ja
- Seite 12 und 13: zu verstehen. Das führt uns zur Fr
- Seite 14 und 15: Japan Foundation Über Chikaku: Zei
- Seite 16 und 17: gewesene rasante Entwicklung des Ve
- Seite 20 und 21: Fig. 1 Taro Okamoto Tower of the Su
- Seite 22 und 23: äußerst reale Folgen für unser L
- Seite 24 und 25: Fig. 4 Takuma Nakahira La nuit 4, c
- Seite 26 und 27: war der konkrete Akt des Fotografie
- Seite 28 und 29: turms befand sich der so genannte
- Seite 30 und 31: Fig. 9 Yutaka Sone Installationsans
- Seite 32 und 33: Fig. 10 Yayoi Kusama Dots Obsession
- Seite 34 und 35: nach außen kehrt. Dieser Gestus sc
- Seite 36 und 37: Doch der Kern der Bombe ist entfern
- Seite 38 und 39: Makoto Sei Watanabe Ein Band, das
- Seite 40 und 41: dass diejenigen, mit denen die ursp
- Seite 42 und 43: Die Hauptausstellungsräume sind au
- Seite 44 und 45: Ribbon, 2005 Ausstellungsarchitektu
- Seite 46 und 47: das in der Luft tanzt und dabei vom
- Seite 48 und 49: Bestimmungen beziehen sich vor alle
- Seite 50 und 51: Da jedes dieser „kanji“- Zeiche
- Seite 52 und 53: Makoto Sei Watanabe Fiber Wave I -
- Seite 54 und 55: die Farben des Sonnenuntergangs (ob
- Seite 56 und 57: Ryuta Imafuku Ein vierdimensionales
- Seite 58 und 59: Fig. 1 Tonfiguren der Jomon-Zeit Fi
- Seite 60 und 61: Fig. 2 Taro Okamoto, Schale aus der
- Seite 62 und 63: Fig. 3 Taro Okamoto, Krug aus der J
- Seite 64 und 65: Fig. 4 Taro Okamoto untersucht „g
- Seite 66 und 67: Fig. 5 Taro Okamoto, „Guso“, In
- Seite 68 und 69:
man in den konservativen und autori
- Seite 70 und 71:
zeugen, im Laufe derer er auf eine
- Seite 72 und 73:
Fig. 6 Trinh T. Minh-ha, The Fourth
- Seite 74 und 75:
Art, die Muster der sich im Inneren
- Seite 76 und 77:
Krystyna Wilkoszewska Auf der Reise
- Seite 78 und 79:
Nozarashi wo Knochen liegen auf dem
- Seite 80 und 81:
Kehren wir noch einmal zum Haiku zu
- Seite 82 und 83:
Fig. 3 Yoshihiro Suda, Weeds, 2004
- Seite 84 und 85:
Fig. 5 Miwa Yanagi, Untitled 1, 200
- Seite 86 und 87:
des Postmodernismus. Wir kommen hie
- Seite 88 und 89:
Paul Virilio ist der Philosoph der
- Seite 90 und 91:
Yoko Tawada Mit den Wörtern knipse
- Seite 92 und 93:
Ohren und blasser Haut sehen die me
- Seite 94 und 95:
ungebundene Bücher. Sie sind manch
- Seite 96 und 97:
Aber in meiner Erinnerung ist nicht
- Seite 98 und 99:
ich Schnappschüsse liebe. Würde i
- Seite 100 und 101:
Man kann versuchen, etwas näher he
- Seite 102 und 103:
Index Masaki Fujihata geboren 1956
- Seite 104 und 105:
Hiroyuki Moriwaki geboren 1964 in W
- Seite 106 und 107:
Yoshihiro Suda geboren 1969 in Yama
- Seite 108 und 109:
Index Masaki Fujihata born 1956 in
- Seite 110 und 111:
Hiroyuki Moriwaki born 1964 in Waka
- Seite 112 und 113:
Yoshihiro Suda born 1969 in Yamanas
- Seite 114 und 115:
Autoren Authors Toshiharu Ito, gebo
- Seite 116 und 117:
Quellenverzeichnis und Übersetzung
- Seite 118 und 119:
Diese Publikation erscheint anläss
- Seite 120 und 121:
Kunsthaus Graz Peter Pakesch, Inten