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Katalog/Catalogue - deutsch/englisch

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Fig. 3 Daido Moriyama<br />

aus dem Buch<br />

SHASHINYO SAYOUNARA<br />

(A Farewell to Photography),<br />

1972<br />

Fig. 3 Daido Moriyama<br />

from the book<br />

SHASHINYO SAYOUNARA<br />

(A Farewell to Photography),<br />

1972<br />

verwurzelt war, angezogen zu werden. Ein Teil der „utaki“ diente<br />

früher als Ort der Luftbestattung, wo sich die sterblichen Überreste<br />

von unzähligen Toten, die den Elementen überantwortet worden<br />

waren, anhäuften. Eine Welt in reinstes Sonnenlicht des umhüllenden<br />

Firmaments getaucht, in der sich da und dort Löcher in tiefe<br />

Abgründe auftun.<br />

Andere „utaki“ waren Orte, an denen Shamaninnen, die „noro“, ihre<br />

religiösen Zeremonien abhielten. Von den „noro“ herbeigerufen<br />

stiegen die Götter auf den leeren Platz herab und begegneten den<br />

Menschen im durchsichtigen Äther. Die „noro“ waren Medien, die<br />

Menschen und Götter miteinander verbanden, oder auch Personifikationen<br />

des menschlichen Willens. Dank der „noro“ erscheinen die<br />

Götter an einem realen Ort, und wenn sie ihre Zeremonien beginnen,<br />

wird der leere Ort mit einer gewaltigen Kraft aufgeladen.<br />

Okamoto erkannte, dass das, was er bei den „utaki“ am eigenen<br />

Leib verspürte, in Wirklichkeit etwas war, das sich in unglaublichen<br />

zeitlichen Dimensionen unendlich lange fortsetzte. Eine übernatürliche<br />

Kraft kommt auf einen leeren Platz herunter. Für die Inselbewohner<br />

ist es unmöglich, ein Leben zu führen, ohne mit ihr in Berührung zu<br />

kommen. Sie legen Steine auf die „utaki“, die dazu dienen, die unsichtbaren<br />

Kräfte herbeizurufen. Sobald sich der Ort mit der unsichtbaren<br />

Kraft füllt, rufen die Menschen sie mit all ihrer Energie an. Diese<br />

permanent wiederholten Gesten und Gebärden akkumulierten<br />

sich Schicht um Schicht an diesem Ort. Hier kam Okamoto unmittelbar<br />

mit einer Kraftquelle in Berührung, die seine eigene Existenz<br />

erschütterte.<br />

In den 1960er und 1970er Jahren erreichte die wirtschaftliche Hochkonjunktur<br />

Japans ihren Höhepunkt. Auf politischer Ebene spitzte<br />

sich zu dieser Zeit eine Bewegung zu, die im Zusammenhang mit<br />

den amerikanisch-japanischen Sicherheitsverträgen nach gesellschaftlichen<br />

Umwälzungen verlangte. Davon inspiriert wandten sich Fotografen<br />

wie Daido Moriyama und Takuma Nakahira den fundamentalen<br />

Fragen der Wahrnehmung zu und entwickelten hinsichtlich der Schnittstelle<br />

von Bild und Wirklichkeit oder der Aktivität der Wahrnehmung<br />

einen ganz eigenen fotografischen Ausdruck. In ihren außergewöhnlichen<br />

Fotografien setzten sie sich beständig mit den Veränderungen<br />

einer gewalttätigen Zeit auseinander. Damals schrieb der Kritiker<br />

Maurice Pinguet anlässlich seines Besuches in Tokio in den 1960er<br />

Jahren: „Tokio ist zwar keine Stadt ohne Vergangenheit, aber es<br />

scheint keinerlei Gedächtnis oder Erinnerung zu geben, als hätte man<br />

sich mit den rasanten geschichtlichen Veränderungen und fundamentalen<br />

Zerstörungen abgefunden.“<br />

In dieser Zeit großer Umwälzungen veröffentlichten die beiden Fotografen<br />

ein umfangreiches Werk, mit dem sie durch gezielte Unschärfe<br />

Toshiharu Ito 20 21<br />

“utaki” – had no physical substance at all; there<br />

were no objects of worship, no sacred figures or idols<br />

erected there where the gods were said to appear<br />

from the heavens, only deserted tracts of virgin<br />

forest. There under pristine blue skies, a rough square<br />

block of stone on the ground and nothing else was<br />

enough to set Okamoto’s head reeling and awaken<br />

memories long dormant deep within himself.<br />

For indeed, by just being there he encountered time<br />

that was vibrantly alive; by being there he was connected<br />

with powerful forces latent deep within the<br />

earth. In ages past, the dead were left outside<br />

exposed to the elements at some “utaki”, making<br />

them open air burial sites: a realm of brilliant sunlight<br />

dotted with deep dark pits.<br />

Other “utaki” sanctuaries were also where female<br />

shamans called “noro” repeatedly held religious<br />

ceremonies. Summoned by these “noro”, the gods<br />

would descend into thin air at that vacant place,<br />

and come face-to-face with people. As mediums –<br />

or rather as deity-communicating media – “noro”<br />

served as transformations of human will; “noro”<br />

made the gods appear in that location and ceremonially<br />

charge that place with divine power.<br />

Okamoto was physically moved by the sense that<br />

here in the “utaki” was something that had been<br />

passed down since time immemorial, a supernatural<br />

presence that descended upon an empty plot of<br />

land and without which the islanders could not<br />

conduct their lives. People left rocks at the “utaki”,<br />

tokens for beseeching unseen powers, and when<br />

those unseen powers permeated the place, people<br />

became wholly and physically enthused with the<br />

spirit, calling forth the gods. Over countless repetitions,<br />

these gestures and energies had built up<br />

there layer upon layer, a continuity that shook<br />

Okamoto to the very roots of his intuitve being.<br />

From the 1960s into the 1970s, during Japan’s<br />

“era of rapid economic growth”, a time of political<br />

unrest that climaxed in calls for social reform and<br />

protests against the US-Japan Security Pact, photographers<br />

Daido Moriyama and Takuma Nakahira<br />

responded by questioning the fundaments of vision;<br />

by pursuing their own idiosyncratic mode of photo-

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