Katalog/Catalogue - deutsch/englisch

wird. Die anderen, die nicht fotografiert werden wollten, wanderten
weiter nach Nordamerika.
In Japan stellt man ein Foto des Verstorbenen in den Hausaltar.
Ältere Menschen beten vor dem Foto für die Toten. Meine Großmutter
hat oft das Foto ihres verstorbenen Mannes angesprochen
und mit ihm geredet. Dabei verkörpert das Foto selbst nicht die
Seele des Toten, sondern das Foto ist ein Sprachrohr, durch das
man mit den Toten sprechen kann.
Ich hatte früher geglaubt, dass sich die Wurzeln für die Vorliebe
der Japaner für den Schnappschuss schon in der älteren Kultur
finden ließen. Matsuo Bashos Haiku-Dichtung könnte zum Beispiel
ein Vorbild für fotografische Momentaufnahmen der Reisenden
sein. Aber neulich bei einer genaueren Lektüre musste ich
feststellen, dass man sich seine Dichtung nicht als Fotografie vorstellen
kann.
Samidare no Vom großen Regen
furinokoshite ya bleibt sie nun doch wohl verschont,
hikaridoo die Goldglanz-Halle!?
Es geht hier in erster Linie nicht um den Glanz der goldenen
Halle, sondern um den Regen, der nicht auf die Halle fiel. Wenn
es in der Grammatik der Fotografie einen Konjunktiv II gäbe,
würde man so etwas aufnehmen können.
Oder:
Nomi shirami Nichts als Flöhe und Läuse!
uma no shito suru Und nah an meinem Kopfkissen
makura-moto pisst auch noch ein Pferd!
Die Insekten im Dunkeln sind schwer zu fotografieren, und der
Piss ist wahrscheinlich in dem Fall nur akustisch wahrnehmbar.
Man könnte sicher die Atmosphäre der Scheune, in der der
Reisende übernachtet, fotografieren. Es geht mir nicht darum
zu beweisen, was man alles nicht fotografisch darstellen kann.
Vielmehr geht es mir darum zu zeigen, dass die Intensität im
Gedicht von der Sprache selbst kommt. „Nomi“ und „Shirami“
enden beide auf „mi“. Auf einem Bild werden der Fuß eines Flohs
und der einer Laus unterschiedliche Formen haben, so dass es
keinen Versfuß mehr gibt.
Bei der Haiku-Dichtung hege ich die Hoffnung, sich von den
Metaphern befreien zu können. Das ist auch der Grund, warum
Yoko Tawada 94 95
turned south and finished up in what is now Japan.
The rest, who did not want to be photographed, went
on towards North America.
In Japan, a photo of the deceased is placed on the
house altar. Older people pray for the dead in front of
the photo. My grandmother often spoke to the photo
of her late husband and talked to him. In this case, the
photo itself doesn’t contain the soul of the deceased.
It’s a voice trumpet for speaking to the dead.
Once I used to believe that the Japanese love of snapshots
was rooted in older culture. For example, Matsuo
Basho’s haiku poetry could be a model for a traveller’s
photographic snapshot. But when I recently looked more
closely, I had to accept that you couldn’t imagine his
poem as photography.
Samidare no The great cloud of rain
furinokoshite ya moves on, and quite passes by
hikaridoo the bright golden hall!?
The first line here is not about the gleaming gold of the
hall but the rain that did not fall on it. If the grammar of
photography had a second subjunctive, you could take
a picture of something like that.
Or again:
Nomi shirami All flea-y, lousy!
uma no shito suru And right beside my pillow
makura-moto packhorses pissing!
Insects are difficult to photograph, and piss is probably
only acoustically perceptible in this case. I’m sure
you could photograph the atmosphere of the barn the
traveller is spending the night in. I’m not out to prove
what you can and can’t photograph, only to show that
the intensity in the poem comes from language itself.
“Nomi” and “Shirami” both end in “-mi”. In a picture,
a flea foot and a louse foot would look different, so that
the metrical foot wouldn’t scan.
In haiku poetry I cherish the hope of shaking off metaphor.
That’s also the reason why I love snapshots. If you
want to represent a flower meaningfully, you ask what