Katalog/Catalogue - deutsch/englisch
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ich Schnappschüsse liebe. Würde ich eine Blume bedeutungsvoll<br />
darstellen, fragt man sich, wofür dieses Bild stehen sollte. Aber<br />
ein Schnappschuss könnte eine Blume so beiläufig zeigen, dass<br />
sie nicht einmal für Schönheit stehen muss, selbst wenn sie<br />
tatsächlich schön aussieht.<br />
Wenn ich einen Vogel durch die Kameralinse betrachte, kommt<br />
mir manchmal ein Haiku-Gedicht von Sora in den Sinn, das er<br />
in Matsushima schrieb. Er war der Reisebegleiter von Basho und<br />
selbst Dichter.<br />
Matsushima ya „Bucht der Kieferninsel“:<br />
tsuru ni mi wo kae Leih dir die Gestalt des Kranichs,<br />
hototogisu du Bergkuckuck!<br />
Ein freches Gedicht. Spätestens nach der Begegnung mit diesem<br />
Gedicht muss man zugeben, dass die Haiku-Dichtung nicht<br />
nach dem Einklang mit der Natur sucht. Der Dichter sagt hier,<br />
dass sich der Bergkuckuck die Gestalt eines Kranichs „ausleihen“<br />
soll. Denn der Kranich und nicht der Bergkuckuck sei der Vogel,<br />
der in diese Landschaft passe. Ich bin neugierig, was für ein<br />
Foto Sora gemacht hätte, wenn es im siebzehnten Jahrhundert<br />
schon Fotoapparate gegeben hätte. Der abwesende Vogel,<br />
der Kranich, kann nur als Wort im Bild existieren. In dem Gedicht<br />
wird nicht beschrieben, wie eine Landschaft oder ein Vogel<br />
aussieht. Stattdessen stehen die Vogelnamen im Zentrum. Die<br />
Reduzierung auf diese führt die Sprache zu dem Akt der Benennung.<br />
Indem der Dichter den Namen eines nicht anwesenden<br />
Vogels ausspricht, wird die Landschaft verändert.<br />
Die Sprache kann die Landschaft entweder durch Umbenennung<br />
oder durch Umdeutung verändern: Das ist es, was ich an der<br />
Sprache schätze. Gleichzeitig kann es ein Schwachpunkt der<br />
Sprache werden. Ohne die Konfrontation mit dem falschen Bergkuckuck,<br />
der auf jedem Schnappschuss auftaucht, wird die Kunst<br />
erblassen. Wenn Sora die ideale Landschaft dargestellt hätte,<br />
nämlich die Kieferninsel mit einem Kranich, hätte das Gedicht<br />
wie die Wandmalerei eines geschmacklosen Restaurants gewirkt.<br />
Es ist mutig, dass er absichtlich den Namen des „falschen“ Vogels<br />
nennt und ihn sogar in die letzte Zeile setzt. Das Wort „Hototogisu“<br />
klingt viel kräftiger und körperlicher als das Wort „Tsuru“.<br />
Wenn ich in Tokyo belebte Gassen fotografiere, sind die Bilder<br />
voller falscher Bergkuckucks, was einen gar nicht mehr stört.<br />
Es ist nicht möglich, sie durch einen Kranich zu ersetzen, weil<br />
die ganze Stadt ein Bergkuckuck ist. Das ist das Phänomen, das<br />
the picture should stand for. But a snapshot could show<br />
a flower just in passing so that it doesn’t even have to<br />
stand for beauty, however beautiful it might really be.<br />
When I look at a bird through the viewfinder, I sometimes<br />
think of a haiku that Sora wrote in Matsushima.<br />
Sora was Basho’s travelling companion and himself<br />
a poet.<br />
Matsushima ya “Bay of pinewood isles”:<br />
tsuru ni mi wo kae go and hire a grey crane’s coat,<br />
hototogisu you mountain cuckoo!<br />
A cheeky poem. Once you’ve read this poem, you have<br />
to accept that haikus are not about looking for harmony<br />
in nature. The poet says here that the mountain cuckoo<br />
should “borrow” the look of a crane because cranes, not<br />
mountain cuckoos, are the birds to go with this landscape.<br />
I’d love to know what kind of photos Sora would<br />
have taken if there had been cameras in the 17th century.<br />
The bird which isn’t there, the crane, can only enter the<br />
picture as a word. The poem doesn’t describe how the<br />
landscape or bird looks. Instead, the focus is on bird<br />
names. Reducing it to this involves the linguistic act of<br />
naming. When the poet utters the name of a bird not<br />
present, the landscape changes.<br />
Language can change landscape either by renaming it<br />
or re-interpreting it. That’s what I like about language.<br />
At the same time, that can be a weakness of language.<br />
Without the confrontation with the incorrect mountain<br />
cuckoo that appears in every snapshot, art would be-<br />
come insipid. If Sora had depicted an ideal landscape,<br />
i.e. islands of pine woods with a crane, the effect of the<br />
poem would have been like a kitschy mural in a restaurant.<br />
It was a bold move to deliberately include the<br />
name of the “wrong” bird and even put it in the last line.<br />
But the word “Hototogisu” is much stronger and more<br />
physical than the word “Tsuru”.<br />
When I photograph my favourite back streets in Tokyo,<br />
the pictures are full of “incorrect” mountain cuckoos,<br />
which doesn’t worry me in the least. It isn’t possible to<br />
replace them with a crane because the whole city is<br />
a mountain cuckoo. That’s a phenomenon many people<br />
describe as post-modern. An Italian acquaintance of