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Katalog/Catalogue - deutsch/englisch

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Als ich von Hamburg nach New York flog, hatte ich auch kein<br />

Familienfoto aus der Kindheit mit. Daran müsste eigentlich der<br />

amerikanische Passkontrolleur gemerkt haben, dass ich keine<br />

Absicht hatte zu immigrieren. Wieso fragte er mich so streng<br />

aus? Ich hatte doch nur eine Einwegkamera mit wie eine einfache<br />

Touristin, und kein einziges Familienfoto. Vielleicht war das Wort<br />

„Einweg“ in diesem Fall ungünstig.<br />

Ich fotografiere jeden Tag, und so ist meine Kamera mir in die<br />

Finger hineingewachsen. Während ich fotografiere, höre ich eine<br />

Stimme, die mir sagt: Was kann die Sprache? Knipsen ist eine<br />

Provokation gegen das Schreiben.<br />

Eine Frau zieht gerade einen weißen Rollkragenpulli an. Ich<br />

schreibe: Sie zieht ihren weißen Pullover an. Dabei fällt mir das<br />

Wort „ziehen“ auf. „Es zieht im Zimmer“, sagt sie und zieht den<br />

Pullover an. Sie zieht mich an. Mein Blick wird angezogen.<br />

Nach dem Baden zieht man sich an, wenn es im Zimmer kalt ist.<br />

Es zieht noch ein wenig, aber der kleine Luftzug stört mich nicht<br />

mehr. In dem Wort „anziehen“ höre ich das Wort „ausziehen“ mit.<br />

Das Wort „ausziehen“ gefällt mir weniger, weil es versucht, mir die<br />

nackte Wahrheit zu verkaufen. Ich kann mir keine nackte Wahrheit<br />

vorstellen. Sie ist immer angezogen. Ihr Pullover besteht aus<br />

dem Blick der Betrachter.<br />

Der „Pullover“ ist ein Fremdwort. An der Stelle „ov“ flimmert etwas<br />

Fremdsprachliches. Mir fällt zumindest kein <strong>deutsch</strong>es Wort ein,<br />

in dem die beiden Buchstaben o und v hintereinander vorkommen.<br />

Oder doch? „Provokation“. Ich habe gerade eben geschrieben,<br />

dass das Knipsen eine Provokation sein könne. Mein Blick ist<br />

weiter fixiert auf die Mitte des Wortes „Pullover“ und entdeckt<br />

„lover“ im Wort „Pullover“.<br />

Durch das Fenster sieht man eine schneebedeckte Straße. Der<br />

Pullover ist weiß wie ein Schneekaninchen. Ich schreibe in mein<br />

Notizbuch: „Sie zieht sich an.“ Auf einem Foto wird das Wort<br />

„anziehen“ nicht zu finden sein. Es ist weder auf einem Gesicht<br />

noch in der Luft geschrieben. Ich lese die Wörter rückwärts:<br />

„An sich zieht sie.“<br />

Die Frau streckt ihren linken Arm hoch, die rechte Hand ist noch<br />

nicht aus dem Ärmel herausgekommen. Die rechte Hand hält<br />

den Pullover an der Brust fest, und das Gesicht ist noch halb<br />

bedeckt vom Kragen. Das ist die sprachliche Übersetzung des<br />

Fotos, das gemacht werden könnte.<br />

„In Gregor Samsas Zimmer hängt auch ein Foto“, sagt sie. Ich<br />

erinnere mich dunkel an die Wand des Zimmers, in dem er schläft.<br />

Yoko Tawada 92 93<br />

passport official should actually have known from this<br />

fact that I had no intention of immigrating. Why did he<br />

question me so sternly? After all, I only had a disposable<br />

camera with me, like a simple tourist, and not a single<br />

family photo. Perhaps the word “disposable” was the<br />

trouble in this case.<br />

I take photos every day, so my camera has grown into<br />

my fingers. When I take photos, I hear a voice saying:<br />

What about language? Taking snapshots is a provocation<br />

against writing.<br />

A woman is just putting on a white polo-neck pullover.<br />

I write: She puts on (“sie zieht an”) a white pullover.<br />

The word “ziehen” strikes me. “Es zieht im Zimmer<br />

(it’s draughty),” she says, and puts the pullover on. She<br />

attracts me (“zieht mich an”, association of “sieht mich<br />

an”/looks at me). My attention is drawn (“angezogen”).<br />

After having a bath, one gets dressed (“man zieht sich<br />

an”) if it’s cold in the room. It’s still draughty (“es zieht”),<br />

but a minor draught doesn’t bother me much. Whenever<br />

I hear the word “anziehen” (to dress), I immediately hear<br />

an overtone of “ausziehen” (to undress). “Ausziehen” is<br />

not so nice because it tries to sell me the naked truth.<br />

I can’t imagine the truth naked. To me, truth is always<br />

dressed. Its pullover is the viewer’s gaze.<br />

In German “Pullover” is a foreign word. There’s something<br />

foreign about “ov”. Or at least, I can’t think of a<br />

German word in which these two letters occur together.<br />

Or can I? What about “Provokation”? I’ve just written<br />

that snapshots can be a provocation.<br />

My eyes latch on to the middle of the word “pullover” and<br />

discover “lover” in it.<br />

Through the window a snow-covered street is visible.<br />

The pullover is the same colour as a snow rabbit. I write<br />

in my notebook: “Sie zieht sich an (she gets dressed).”<br />

You wouldn’t find the word “anziehen” on a photo. It<br />

doesn’t appear on faces or in the air. I read the words<br />

backwards: “An sich zieht sie (In itself, it pulls).”<br />

The woman raises her left arm, the right hand hasn’t<br />

come out of the sleeve yet. Her right hand holds the<br />

pullover to her chest, and her face is still half-buried in<br />

the collar. That’s the linguistic rendering of the photo<br />

that could be taken.

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