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102 LITERATÛRZINÂTNE, FOLKLORISTIKA, MÂKSLA<br />

zusehens in die Kategorie des Zeitdokuments gerückt wird. Gleichzeitig tritt der<br />

Einsatz von verschiedenen Dokumenten, von Tatsachenmaterial als Erinnerungsstütze<br />

auf und ermöglicht die Fehlbarkeiten und Lücken der Erinnerung umzugehen.<br />

Das Tagebuch beginnt mit der Suite 4 – die ersten drei sind entweder nicht<br />

vorhanden oder verschollen – mit einer belanglosen Aufzeichnung: “Schwänzte<br />

Laborstunde.” 18 , was man als eine Art offenen Anfang deuten kann und was auf<br />

Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit der Tagebuchaufzeichnungen hinweist und<br />

als eine mögliche Fortzetzung der früheren Aufzeichungen zu verstehen ist.<br />

Am 16. Januar 1902, kurz bevor Alma Schindler Gustav Mahler heiratet (am 9.<br />

März 1902), werden die Aufzeichnungen abgebrochen. Ein derartiger Schluss, weist<br />

Sabine Voigt hin, ist durchaus für ein Frauentagebuch typisch: “Eine Heirat beendete<br />

häufig das Führen eines Tagebuchs, was in der Regel mehrere Gründe hatte: Zum<br />

ersten wurde innerhalb der Ehe die Identität der Frau über den Mann definiert, die<br />

Frage nach der Standortbestimmung ihres Selbstbewußtseins wurde damit zumindest<br />

nach gesellschaftlichen Gesichtspunkten beantwortet. Zum zweiten galt in der Ehe<br />

offiziell die Prämisse der Offenheit, das heißt, die Frau sollte vor ihrem Mann keine<br />

Geheimnisse haben, wenn sie keinen Verdacht erregen wollte.” 19 . Wenn man die<br />

bekannte Passage aus Gustav Mahlers Brief vom 20.Dezember 1902: “...Du mußt<br />

Dich mir bedingungslos hingeben, Dein zukünftiges Leben in jeder Einzelheit ganz<br />

nach meinen Bedürfnissen ausrichten...” 20 – in Betracht zieht, scheint dieses<br />

Gattungsmerkmal des Frauentagebuches leicht auf die “Tagebuch–Suiten” zu<br />

übertagen. Denn wenigstens auf den ersten Blick willigt Alma in diese Forderung ein.<br />

Dennoch funktioniert diese Besonderheit des weiblichen Diariums im Fall von<br />

Alma Maler–Werfel wohl kaum. Man kann annehmen, dass Alma Mahler ihre<br />

Aufzeichnungen zwar unterbrochen jedoch später dann weitergeführt hat. Es gibt zum<br />

Beispiel auch Tagebücher, die bis jetzt noch nicht veröffentlicht wurden<br />

(Tagebuchnotizen aus dem Jahre 1913, die sich im Privatbesitz befinden und deren<br />

Kopie man in Oskar –Kokoschka–Archiv finden kann21 . In “Mein Leben” kann man<br />

den Verweis darauf finden, dass die Verfasserung für die Beleuchtung der Ereignisse<br />

aus den 20er Jahren oft nach einem Tagebuch greift. Oder es wird zum Beispiel bei<br />

der Beschreibung der Ereignisse aus dem Sommer 1940 der Verlust des Gepäcks „mit<br />

allen meinen Aufzeichnungen” 22 bedauert. Aufschlussreich ist, dass der<br />

Autobiographie “Mein Leben”, in die u.a Fragmente des Tagebuches von Franz<br />

Werfel einmontiert werden, das, wenn zum Teil transformierte, Prinzip des<br />

Tagebuchs–Aufzeichnens zugrunde liegt. Die die Prozessualität bzw. Kontinuität des<br />

diaristische Schreibens von Alma Mahler–Werfel rückt das Tagebuch in die Kategorie<br />

des Hauptwerkes ihres Lebens. Somit wird die Schrift für Alma Mahler–Werfel zum<br />

Medium, in dem sie ihre Subjekivität zu behaupten versucht. Das Schreiben wird<br />

damit zu einer wichtigen Bedingung ihrer weiblichen Identität.<br />

Gattungsgemäss finden sich in den “Tagebuch–Suiten” nicht wenige<br />

Überlegungen in hinsichtlich des eigenen Tagebuchs. Sie werden dabei oft mit der<br />

Frage nach der Wahrheit verbunden, die von vielen Diaristen als Kernproblem des<br />

Tagebuches aufgefasst wird. Während der Italienreise im April 1899 notiert sie:<br />

“Gestern sprach ich mit Karlweiss über das Tagebuchführen. Er sagte, es ist gut sich<br />

zu gewöhnen, mit sich zu rechten, aber ganz wahr ist man nie mit sich selbst, es ist

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