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20 LITERATÛRZINÂTNE, FOLKLORISTIKA, MÂKSLA<br />
beobachtet selbst. Alle wichtigen Personen des Romans, auch die unwahrscheinlichsten,<br />
enthüllen sich schließlich als Informanten des Ministeriums für<br />
Staatssicherheit, verstrickt in ein Spiel, das niemand beherrscht, niemand überblickt<br />
und das dennoch einen Staat ergibt: “Ziel des Dienstes war es, alle...Ich sagte alle!<br />
dachte er. Ausnahmslos alle...zu Mitarbeitern des Dienstes zu machen, auch wenn<br />
dieser Gedanke wahnsinnig klang. Damit alle von allen überwacht werden<br />
konnten...War dies nicht das unausgesprochene Ziel aller großen Utopien, von Platon<br />
über Bacon bis Marx und Lenin? Daß jeder jeden in der Hand hatte, vielleicht war<br />
dies das letztendliche Ziel des utopischen Denkens...” 6 .<br />
Die in unendlich vielen Anläufen durchgespielte Idee Hilbigs: Der Gegensatz von<br />
Geist und Macht ist eine Chimäre, tausendfach ausgebeutet von der Stasi wie von<br />
den Dichtern. Im gegenteil: Dichter und Staatsschützer sind sich ähnlich, aufeinander<br />
verwiesen, sie agieren in ähnlichen Strukturen. M. W. wird Schriftsteller, weil die Stasi<br />
Opposition braucht wie die Opposition den Staatsschutz. Stasi wie Dichter sind<br />
abwesend hinter ihren papiernen Entwürfen; beide hegen ein tiefes Mißtrauen gegen<br />
die Wirklichkeit; beide können nicht mit Menschen umgehen, können sie nur<br />
erforschen, ausforschen; beide kommunizieren nicht, sondern leben hinter den<br />
Zeichen; beide ersetzen Reales durch beliebige Kopfgeburten. Der Dichter ist “der<br />
Wahrnehmungsmensch, dessen Sinn darauf trainiert war, seine Beobachtungen in<br />
methodisch aussehende Sprachraster zu fügen” 7 . Der IM auch. Der Dichter lebt in<br />
der Welt der Zeichen. Der IM auch. Beide sind Simulationsagenten. Atemberaubend<br />
ist diese Hypothese, die dem Ganzen zugrundeliegt.<br />
Der Ich–Zerfall in einer Welt verlorener Sicherheit und vorgefertigter Normen ist<br />
die Voraussetzung für den postmodernen Roman. Norbert Niemanns Roman “Wie<br />
man’s nimmt” (1998) handelt von jungen desolaten Figuren, die nach sich selbst<br />
suchen, aber bei dieser Suche immer nur auf vorgestanzte Meinungshülsen stoßen.<br />
Eigentlich ist an den Figuren, die wie aus Fertigbauteilen zusammengesetzt sind,<br />
nichts Eigenes mehr. Und eigentlich wiederholt auch Niemanns Sprache das<br />
Phrasenhafte und will so die Ohnmacht vor der phrasenhaften Welt zeigen. Die<br />
Medialisierung und Vernetzung ist so allgegenwärtig, daß es überhaupt keinen<br />
Zugang mehr zum Echten gibt. Verkürzt also: Die Welt ist eine riesige Konserve, was<br />
man wiederum nur mit Konservensätzen zeigen könne.<br />
Auch Steffen Kopetzky läßt in seiner Prosaarbeit “Einbruch und Wahn” einen<br />
jungen Dichter den Boden unter dem Denken verlieren. Seine aberwitzig<br />
verschachtelten Sätze, deren Teile sich ständig selbst ins Wort fallen, sich durch die<br />
Form schon der Lüge bezichtigen, führen in einen geschlossenen, realitätsleeren<br />
Wahnkosmos, der sich selbstgenügsam und nach dem Schneeballprinzip ins<br />
Gewaltige fortspinnt. Sowohl Niemann als auch Kopetzky inszenieruen und<br />
verabsolutieren die Unwahrheit. Beide Texte richten sich im Unechten, im<br />
Uneigentlichen, im “uneigentlichen Konservenschreiben” ein.<br />
Gerade die Tendenz des “uneigentlichen Konservenschreibens” löst ein Motiv<br />
ab, das die Literatur noch bis in die 1980er Jahre bestimmt hat: die Eigentlichkeit.<br />
Schaut man auf die Themen und Motive, trifft man immer wieder auf die damaligen<br />
Themen und Motive, trifft man immer wieder auf die Eigentlichkeit und die Sehnsucht<br />
nach dem Unvermittelten, dem Echten. Und zwar nicht nur bei Peter Handke und