Gedankenexperimente Eine Familie philosophischer Verfahren
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5.3.1 Rationale Rekonstruktion versus konkrete Rechtfertigung in Konfliktfällen und<br />
zwei Typen von Beurteilungen<br />
Wir können wiederum unterscheiden zwischen der rationalen Rekonstruktion unserer<br />
Berechtigung zu kontrafaktischen Konditionalen und der konkreten Rechtfertigung einzelner<br />
Urteile in Konfliktfällen. Das erste Projekt will erklären, warum die Beurteilung mittels<br />
kontrafaktischer Konditionale ein rationaler, wahrheitsbewahrender Prozeß ist. Das zweite<br />
Projekt will Gründe liefern, eine Beurteilung einer anderen vorzuziehen.<br />
Antworten auf das erste Projekt haben wir bereits in Kapitel 1 kennengelernt. Die<br />
Experimentanalyse von <strong>Gedankenexperimente</strong>n zielt häufig darauf, unsere Beurteilungen rational<br />
zu rekonstruieren. Sowohl die Berufung auf das mentale Ablesen eines Versuchsergebnisses als<br />
auch auf mentale Modelle spielen eine ganz ähnliche Rolle: Es wird plausibel gemacht, warum die<br />
Beurteilung vorgestellter Szenarien überhaupt zuverlässig sein können soll. Brown hat die<br />
Beurteilungen als apriorische Einsichten analysiert, viele Autoren sprechen (in einem der vielen<br />
Sinne des Wortes) von Intuitionen. Psychologische Modelle sollten auf ihre Weise die<br />
Zuverlässigkeit von Beurteilungen nahe legen. Theorien schließlich, die <strong>Gedankenexperimente</strong><br />
lediglich als Intuitionspumpen begreifen, stimmen dem Zweifler meist vehement zu: Unsere<br />
Beurteilungen vorgestellter Situationen sind tatsächlich oft unzuverlässig!<br />
Für das zweite Projekt tragen diese Antworten wenig aus. Sie geben uns keine Hilfestellung, um<br />
zwischen zwei Beurteilungen zu unterscheiden. Um das zweite Projekt in Gang zu bringen,<br />
sollten wir zunächst einmal zwischen zwei Endpunkten eines Spektrums unterscheiden. 399 Es gibt<br />
<strong>Gedankenexperimente</strong>, in denen explizit für eine Beurteilung argumentiert wird. Wir geben also<br />
manchmal Argumente, warum, wenn p der Fall wäre, auch q der Fall wäre. Solche expliziten<br />
Rechtfertigungen, die wir gegeneinander abwägen können und deren Prämissen wir auf ihre<br />
Glaubwürdigkeit überprüfen, sind alles andere als epistemisch rätselhaft oder problematisch. 400<br />
Die Verwunderung über den epistemischen Status von <strong>Gedankenexperimente</strong>n rührt von Fällen<br />
am anderen Ende des Spektrums her, wo wir zur Rechtfertigung des kontrafaktischen<br />
Konditionals nur wenig oder gar nichts sagen können. Wie sollen wir die Wahrheit oder<br />
Falschheit von Behauptungen einschätzen, zu denen wir keine Rechtfertigung zur Hand haben?<br />
Es ist klar, daß Vorstellbarkeit als Antwort hier gar nicht mehr in Frage kommt. In der Literatur<br />
399 Dies ist die Unterscheidung, die ich in Kapitel 2.2.3.2 eingeführt habe.<br />
400 Auf jeden Fall sind sie nicht problematischer als epistemische Bewertungen überhaupt. Es gibt natürlich<br />
naturalistische Positionen, die sich allen evaluativen oder normativen Vokabulars entledigen möchten.<br />
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