edition two corporate responsibility magazine ... - Phase 4 GmbH
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„Erheblicher Reformbedarf“<br />
Andreas Schleicher, Herausgeber des jährlichen OECD-Bildungsberichts,<br />
über die Mängel des deutschen Bildungssystems und Auswege aus der Misere.<br />
Deutsche Eltern kümmern sich zu wenig<br />
um die Schulleistungen ihrer Kinder,<br />
der Staat lässt die Hochschulen verkommen<br />
– machen sich die Deutschen nichts<br />
mehr aus Bildung?<br />
SCHLEICHER So absolut kann man<br />
das nicht sagen, aber fest steht: Die<br />
Lehrer gehen nicht richtig auf die<br />
Bedürfnisse der Schüler ein.<br />
Sind die Lehrer falsch ausgebildet?<br />
SCHLEICHER Man fördert die Schüler<br />
nicht richtig, man kümmert sich weder<br />
um die Stärken noch um die Schwächen<br />
der Einzelnen. In Skandinavien<br />
beispielsweise stehen die Schüler im<br />
Mittelpunkt. Sie sind weniger Objekt,<br />
als das hierzulande der Fall ist.<br />
Andere sagen, das System an sich hat<br />
Schuld an der Misere.<br />
SCHLEICHER Das deutsche Bildungssystem<br />
ist tatsächlich sehr rigide. Wer<br />
aus einer Familie mit niedrigem Bildungsstand<br />
kommt, hat wenig Chancen<br />
zu studieren. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass ein Kind eines höheren<br />
Beamten in Bayern aufs Gymnasium<br />
geht, ist dreimal so groß wie beim Kind<br />
eines Facharbeiters – bei gleicher Begabung<br />
wohlgemerkt. Das deutsche<br />
Bildungssystem hat sich den Veränderungen<br />
durch Globalisierung und technologische<br />
Revolutionen nicht angepasst.<br />
Die Reformen der vergangenen 30 Jahre<br />
waren also nur Kosmetik?<br />
SCHLEICHER Am Bildungsangebot<br />
hat sich nichts Grundlegendes geändert.<br />
Die Trennung zwischen berufsbildenden<br />
und akademischen Ausbildungsgängen<br />
besteht nach wie vor.<br />
Wenn jemand nach der Hauptschule<br />
eine Elektronikerlehre gemacht hat<br />
und dann Ingenieur werden will, muss<br />
er praktisch bei null anfangen.<br />
Haben andere Länder schneller auf die<br />
veränderten Anforderungen reagiert?<br />
SCHLEICHER Ja. England und Australien<br />
etwa sind bei der Reform ihrer<br />
Hochschulen geradezu radikal vorgegangen.<br />
Dort besteht heute ein breit<br />
gefächertes Bildungsangebot, bei dem<br />
der Einzelne seinen Bildungsweg<br />
gestalten kann. Lebenslanges Lernen<br />
ist Wirklichkeit. In Schweden beginnt<br />
die Hälfte aller Schulabgänger ein<br />
Hochschulstudium, in Deutschland ist<br />
es nur ein Fünftel eines Jahrgangs.<br />
Dabei wird der Bedarf an qualifizierten<br />
Arbeitskräften noch wachsen.<br />
Es kommt also noch schlimmer für die<br />
Deutschen?<br />
SCHLEICHER Das befürchte ich tatsächlich.<br />
Wagt man den Versuch, ins<br />
Jahr 2020 zu blicken, dann wird der<br />
Anteil der Beschäftigten im produzierenden<br />
Gewerbe in den Staaten der<br />
OECD auf zehn Prozent schrumpfen.<br />
90 Prozent werden hoch qualifizierte<br />
Wissensarbeiter sein.<br />
Mehr Akademiker trotz bereits überfüllter<br />
Hochschulen. Wie lässt sich dieses<br />
Dilemma lösen?<br />
SCHLEICHER Deutschland hat eine<br />
der niedrigsten Quoten von Studienanfängern<br />
und eine hohe Abbrecherquote.<br />
Dass die Studienbedingungen<br />
noch nicht optimal sind, liegt eher an<br />
den undifferenzierten Angeboten als<br />
an der mangelhaften Finanzierung.<br />
Das Studium muss besser, aber auch<br />
kürzer werden.<br />
che englischsprachigen Master-Studiengänge die<br />
Ausländer interessieren oder wie man Deutsche<br />
animiert, ein Semester im Ausland zu verbringen.<br />
STABILES NETZWERK<br />
Eine gewisse Weltoffenheit wurde Hannemor<br />
Keidel in die Wiege gelegt. Mehrere Jahre ihrer<br />
Kindheit verbrachte sie mit der norwegischen<br />
Mutter in Bergen, später ging sie als Austauschschülerin<br />
in die Vereinigten Staaten. Als Wissenschaftlerin<br />
beschäftigte sie sich mit europäischem<br />
Medienrecht. Seit sie die Internationalisierung<br />
vorantreibt, ist der Anteil an Fördermitteln des<br />
Deutschen Akademischen Austauschdienstes um<br />
knapp 80 Prozent gestiegen, 35 Prozent mehr Studenten<br />
als früher gehen ins Ausland. Wohl ein<br />
Höhepunkt ihrer Karriere als Meisterin der Netzbildung<br />
war die Gründung des German Institute<br />
of Science and Technology in Singapur (GIST):<br />
GIST macht die TU zur ersten deutschen Uni mit<br />
einer selbständigen Tochter im Ausland. Vor<br />
einem halben Jahr starteten dort die ersten Studenten<br />
im Studiengang „Industrial Chemistry“,<br />
weitere Angebote sollen folgen.<br />
Two 2003 21