Lernwirkungen neuer Lernformen - ABWF
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3. These: Gelernt wird das, was für den Einzelnen subjektiv bedeutungsvoll und passend ist.<br />
Dem Lernen liegt das pragmatische Interesse zugrunde, sich in einer unübersichtlichen, kontingenten<br />
und komplexen Welt zurechtzufinden. Das Individuum organisiert und konstruiert<br />
sein Wissen infolgedessen nicht nach dem Maßstab einer Wahrheitsfindung, sondern nach<br />
dem Viabilitätsprinzip, d.h. danach, wie das, was es wahrnimmt, zu seinen bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen<br />
und seiner Umwelt „passt“. Diese Vorstellung ist eng verknüpft mit<br />
den Arbeiten des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980). Danach ist<br />
jeder Mensch darum bemüht, in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt einen inneren<br />
Gleichgewichtszustand zu bewahren, was seinem Grundbedürfnis nach Sicherheit und Stabilität<br />
entspricht. Um diesen homöostatischen Zustand („Äquilibration“) zu erreichen, versucht<br />
ein Individuum zunächst ein neues Ereignis zu assimilieren, d.h. mit bekannten Wahrnehmungs-<br />
und Deutungsmustern zu erfassen. Wobei von diesem neuen Ereignis nur das wahrgenommen<br />
wird, was mit den bisherigen Erfahrungen weitgehend übereinstimmt und mit<br />
vorhandenem Wissen erklärt werden kann; Aspekte, die für den Augenblick nicht handlungsrelevant<br />
sind, werden dabei weitgehend ausgeblendet. Auf dieser Grundlage konstruieren wir<br />
uns dann ein Bild der Wirklichkeit, das mit unseren vertrauten Vorstellungen übereinstimmt<br />
und für unser weiteres Handeln passend bzw. brauchbar, d.h. viabel erscheint. Was als adäquat<br />
erlebt wird, „wird dabei durch den Zusammenhang des Handelns bestimmt, in dem wir<br />
uns gerade befinden; und dieser jeweilige Zusammenhang erfordert nie, dass wir die ‘Umwelt’<br />
so sehen, wie sie in ‘Wirklichkeit’ ist (was wir ja ohnedies nicht könnten), sondern er<br />
verlangt nur, dass das, was wir wahrnehmen, uns zu erfolgreichem Handeln befähigt“ (v. Glasersfeld<br />
1995, S. 22).<br />
Erst wenn dieser Vorgang misslingt, indem sich das Ereignis nicht mit den Erwartungen deckt<br />
und den Handlungsablauf gefährdet, muss das Individuum noch andere Bestandteile bzw. Aspekte<br />
des Ereignisses in Betracht ziehen und vertraute Deutungsmuster weiterentwickeln (vgl.<br />
Arnold/Siebert 1995, S. 49), was als Akkommodation beschrieben wird. Eine Veränderung<br />
bzw. Weiterentwicklung kognitiver Strukturen findet daher erst im akkommodativen Vorgang<br />
statt, d.h. über eine „Differenzerfahrung“ (Bateson 1987, S. 114, Müller-Kipp 1992, S. 108).<br />
Allerdings verhält sich unser kognitives System – wie übrigens auch jedes soziale System –<br />
„konservativ“. D.h. wir leben in der Annahme, dass das, was einmal funktioniert hat, auch<br />
wieder funktioniert (vgl. v. Glasersfeld 1987, S. 147), weshalb wir uns nur schwer von vertrauten<br />
Deutungs- und Handlungsmustern trennen können.<br />
4. These: Nachhaltiges Lernen beruht auf Differenzerfahrungen und expansiven Lerngründen.<br />
Wie <strong>neuer</strong>e Untersuchungen zeigen, ist das Bedürfnis, sich in einer unübersichtlichen, komplexen<br />
Welt Orientierung und damit Sicherheit zu verschaffen, ohne vertraute Wahrnehmungs-<br />
und Deutungsmuster in Frage stellen zu müssen, wesentlich emotional verankert, somit<br />
sind Kognition und Emotion wechselseitig miteinander verknüpft (vgl. Ciompi 1998).<br />
Dieser Aspekt ist z.B. für das Verständnis von Lernwiderständen bedeutsam. Widerstände<br />
sind somit Ausdruck eines plausiblen Umgangs des Lernenden mit neuem Wissen, welches<br />
sich nicht in die kognitiv-emotionalen Strukturen einpassen lässt oder diese Orientierungsmuster<br />
zutiefst gefährden würde.<br />
Für Lernprozesse bedeutet dies, dass Lernumgebungen so gestaltet sein sollten, dass sie den<br />
Lernenden dazu anregen, signifikante Differenzen zu seinen bisherigen Wirklichkeitskonstruktionen<br />
und Wissensstrukturen wahrzunehmen. Das setzt aber voraus, dass diese Differenzerfahrung<br />
nicht als etwas Identitätsbedrohendes erlebt wird, sondern als Chance, die eigenen<br />
Handlungsmöglichkeiten zu erweitern und somit eine Verbesserung der eigenen Lebensqualität<br />
zu erreichen. Klaus Holzkamp (1993) bezeichnet ein solches Lernen als „expansiv“<br />
und stellt es einem „defensiven“ Lernen gegenüber. Beim defensiven Lernen ist das Interesse<br />
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