kurzgeschichte - SpecFlash
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24<br />
Ars Poetica<br />
schwächlich und schon bei der Geburt vom Tode<br />
gezeichnet, und die Ärzte gaben ihm kein langes<br />
Leben. Doch wie durch ein Wunder überlebte der<br />
Knabe, ja, er gedieh sogar sehr prächtig und<br />
erblühte geradezu. Das versetzte die Ärzte in<br />
Staunen, und sie fanden keine andere Erklärung<br />
als die, dass die Muttermilch der kräftigen Magd<br />
Verdina dieses Wunder bewirkt und den Sohn<br />
des Grafen am Leben erhalten hatte. Verdina<br />
stillte den gräflichen Sohn weiterhin wie ihren<br />
eigenen, ja, sie bevorzugte ihn gegenüber<br />
diesem, indem sie ihn stets zuerst stillte. Zum<br />
Dank dafür, dass sie seinem Sohn mit ihrer<br />
Fürsorge das Leben gerettet hatte, nahm der<br />
Graf die Magd mit ihrem Sohn in seine große<br />
Familie auf. Damit standen ihrem Kinde dieselbe<br />
Erziehung und Ausbildung zu wie dessen gräflichem<br />
Milchbruder. Die beiden Knaben wuchsen<br />
Seite an Seite auf, verstanden sich ausgezeichnet<br />
miteinander und sahen sich als wahrhaftige<br />
Brüder. Ihr Sprachlehrer Horten Spaggio sagte<br />
einmal im Scherz, dass der gräfliche Sohn dünn<br />
und klein und zart wie ein Zahnstocher sei, wie<br />
ein stuzzidente, was ein Begriff aus einer toten<br />
terranischen Sprache ist; so kam er zu seinem<br />
Spitznamen Stuzzi. Sein Milchbruder, ebenfalls<br />
klein, aber pummlig, wurde von demselben<br />
Lehrer mozzicone genannt, was Stummel heißt,<br />
und an ihm blieb daraufhin der Spitzname Mozzi<br />
haften. Ihr Lehrer weckte beider Interesse an<br />
alt-terranischen Sprachen und an terranischer<br />
Geschichte, und die Milchbrüder versuchten sich<br />
gegenseitig in ihrem Lerneifer zu übertreffen. Sie<br />
waren beide überdurchschnittlich intelligent und<br />
lernbegierig, und niemand Uneingeweihter, der<br />
sie miteinander sah, hätte sagen können, wer<br />
von beiden blaublütig war und welcher aus<br />
ärmlichen Verhältnissen stammte. Sie waren<br />
einander im Geiste ähnlicher als die meisten<br />
leiblichen Brüder, aber obwohl sie unter densel-<br />
<strong>SpecFlash</strong> - das Portal in eine parallele Realität<br />
ben Bedingungen aufgewachsen waren,<br />
machten sich im Laufe der Jahre Unterschiede<br />
im Charakter und der Persönlichkeit bemerkbar.<br />
Beide interessierten sich nach wie vor brennend<br />
für Geschichte, doch während Mozzi mehr an<br />
Geschichtsforschung interessiert war, entwickelte<br />
sich Stuzzi eher zu einem kritischen<br />
Politologen, ja, geradezu zu einem Rebellen. Er<br />
begann, die herrschenden Zustände auf seiner<br />
Heimatwelt Hyppion zu kritisieren, nannte den<br />
Souverän einen Tyrannen und bezeichnete das<br />
politische System als Feudalherrschaft; seinen<br />
Vater nannte er einen Blutsauger und Unterdrücker,<br />
der auf Kosten der Ärmsten dieser Welt das<br />
Leben eines müßiggängerischen Popanz führte.<br />
Mit Siebzehn schloss sich Stuzzi einer Geheimorganisation<br />
an, die das Herrschaftssystem durch<br />
groß angelegte und spektakuläre Gewaltanwendungen<br />
stürzen wollte. Sein Deckname war<br />
Mishima, nach einem alt-terranischen Schriftsteller,<br />
der zum Umstürzler geworden war. Stuzzi<br />
hatte diesen Terraner wegen seiner Unerschrockenheit<br />
und seiner Konsequenz schon immer<br />
bewundert, seit er zum ersten Mal von ihm<br />
gehört hatte. Nur sein Milchbruder Mozzi war in<br />
sein Doppelleben eingeweiht, und er litt sehr<br />
unter Stuzzis Beteiligung an Terroraktionen und<br />
versuchte, den Bruder davon zu überzeugen,<br />
dass Gewalt nicht der richtige Weg sei, um die<br />
herrschenden Zustände zum Besseren zu<br />
wenden. Doch der blaublütige Revolutionär blieb<br />
uneinsichtig, sah keine andere Möglichkeit als<br />
den Terror, um eine Liberalisierung des Systems<br />
zu erreichen. Und Stuzzi versicherte dem Milchbruder<br />
gegenüber glaubhaft, dass er nie die<br />
Waffe gegen einen Mitmenschen richten würde,<br />
sondern lediglich das Gut und die Machtsymbole<br />
der herrschenden Klasse zerstöre. Es kam, wie es<br />
kommen musste, nämlich dass Stuzzi enttarnt<br />
wurde und in den Untergrund flüchten musste.