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Architektur und Politik - Landesinitiative StadtBauKultur NRW

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Für eine politische Ethik des Raumes<br />

Philosophische Stichworte zu einer freien Baukultur<br />

Prof. Dr. Peter Sloterdijk<br />

Staatliche Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe<br />

Es ist mir eine Ehre <strong>und</strong> ein Vergnügen, mit diesem eminenten<br />

Personenkreis einige Gedanken austauschen zu dürfen über die<br />

Frage nach dem Wesen Europas sowie über eine politische Ethik<br />

des Raumes – wobei ich fürs erste den Zusammenhang zwischen<br />

den beiden Themenmotiven im Unklaren lasse. Bevor ich zur<br />

Sache komme, muss ich nur dem Moderator noch kurz widersprechen.<br />

Es bricht keineswegs immer ein Konflikt los, wenn ich<br />

in der Öffentlichkeit etwas sage. Ich bin kein streitbarer Mensch.<br />

Nach meiner Selbstbeschreibung bin ich außerordentlich nett<br />

<strong>und</strong> fre<strong>und</strong>lich, aber meine Art von Nettigkeit wird chronisch<br />

missgedeutet – daher arbeite ich berufsmäßig daran, den hohen<br />

Missverständnisfaktor auf ein erträgliches Maß zu reduzieren –<br />

mit zweifelhaftem Erfolg, wie man sieht. Außerdem werde ich<br />

bei dem heutigen Vortrag ein wenig behindert sein, Nachklänge<br />

zu Herrn Vespers Ausführungen über die Gebührenordnung der<br />

Architekten werden mir im Kopf herumspuken. Während der<br />

ersten halben St<strong>und</strong>e meiner Ausführungen können Sie merken,<br />

dass ich in Gedanken anderswo bin. Ich bin fasziniert vom<br />

Hinweis auf konkurrierende Gebührenordnungen. Das hat mich<br />

in eine träumerische Stimmung versetzt, ich denke darüber nach,<br />

wie es wäre, wenn auch Philosophen Gebührenordnungen hätten<br />

<strong>und</strong> bei allen Allgemeinheiten, die andere Leute vorbringen, mitverdienten?<br />

Ich will Ihnen jetzt im voraus sagen, worüber ich heute spreche,<br />

damit sie überprüfen können, ob ich imstande war, mir mein<br />

Konzept zu merken. Ich möchte heute erstens ein Paar Gedanken<br />

über das alte Europa vortragen – <strong>und</strong> zwar mit der Tendenz,<br />

Europa als ein dramaturgisches Phänomen zu charakterisieren.<br />

Danach mache ich einige Andeutungen über die <strong>Architektur</strong> als<br />

eine Kunst der Immersion, das heißt des Eintauchens in<br />

Gesamtverhältnisse, <strong>und</strong> zum Schluss stelle ich eine zweite<br />

Europadefinition vor, die diesen Kontinent als ein umfassendes<br />

postimperiales Verwöhnungsprojekt beschreibt, an dem die<br />

Architekten als Agenten des Zeitgeistes unter dem Stichwort<br />

„Lebensqualität“ in besonderer Weise engagiert sind. Dass ich<br />

diesen Gedanken an den Schluss stelle, hat seinen guten Gr<strong>und</strong>,<br />

es wird mir das Entkommen erleichtern.<br />

Philosophen sind dafür berühmt, ihre Thesen weit herzuholen.<br />

Ich sage Thesen <strong>und</strong> nicht Meinungen, weil es Meinungen in<br />

unserem Beruf offiziell nicht gibt. Man hat die Philosophen ja<br />

definiert (vor allem in der nach-kartesischen Zeit) als Menschen,<br />

die einen Krieg gegen die Memorier, die Gedächtnismenschen<br />

führen. Für sie ist alles, was nur aus dem Gedächtnis stammt,<br />

von vorneherein falsch oder zumindest suspekt. Am liebsten<br />

wollen wir – oder einige von unserer Zunft – auf der tabula rasa<br />

der Gedächtnislosigkeit arbeiten, so wie ein Architekt auf einem<br />

leeren Blatt eine Skizze zeichnet. Wie jedes reale Haus auf einem<br />

leeren Blatt anfängt, so will auch der Philosoph auf einem leeren<br />

Gr<strong>und</strong> neu beginnen. Daher ist seit jeher ein gewisser pathologi-<br />

scher Menschentyp in philosophischen Angelegenheiten begünstigt,<br />

ich spreche von den Leuten, die sich wegen einer extremen<br />

Gedächtnisschwäche ihre eigenen Überzeugungen nicht merken<br />

können. Solche Individuen machen zuweilen die Entdeckung,<br />

dass man auf der Gr<strong>und</strong>lage reinen Nachdenkens anhand einer<br />

exakt abgezählten Anzahl von Axiomen <strong>und</strong> eines gesicherten<br />

Schlussverfahrens immer wieder dasselbe Ergebnis erzielt –<br />

wodurch tatsächlich Gedächtnis überflüssig wird. Ständiges<br />

Neudenken führt offenk<strong>und</strong>ig auch zum Ziel. Überzeugungen<br />

muss man sich nicht merken, sondern ständig neu ableiten.<br />

Philosophen wären demnach Meinungsarchitekten, die immer<br />

wieder vom Null-Punkt starten.<br />

Heute können wir uns das leider nicht leisten, weil hier eine<br />

Geschichte zu erzählen ist. Europa ist bekanntlich ein Eigenname,<br />

<strong>und</strong> Namen kommen nur in Geschichten vor, für deren<br />

Wiedergabe ein gewisses Maß an Gedächtnisanstrengung in<br />

Anspruch zu nehmen ist. Provisorisch schlage ich daher für die<br />

Tätigkeit des Philosophen eine zusätzliche Definition vor <strong>und</strong><br />

sage: Philosophie ist allgemeine Situationstheorie. Philosophieren<br />

heißt Situationen theoretisieren. Eine Situation ist sehr allgemein<br />

zu bestimmen als ein Verhältnis des Zusammenseins von<br />

Elementen. Die Faktoren dieses Verhältnisses zählen sich in folgender<br />

Weise auf: Situationen sind Formen des Zusammenseins<br />

von Jemand mit Jemand <strong>und</strong> Etwas in Etwas. Was heißt das? Die<br />

ersten beiden Figuren sind unmittelbar verständlich: Jemand mit<br />

jemand – das bezeichnet eine personale Assoziation oder ein pri-

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