Architektur und Politik - Landesinitiative StadtBauKultur NRW
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neuen Akzent, indem er seinen Landsleuten erklärte, wozu es<br />
Römer gibt <strong>und</strong> welche Rolle sie im großen ganzen zu spielen<br />
haben. Vor allem schrieb er diese Deutung seinem Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong><br />
Herren Oktavianus Augustus in das Stammbuch, doch auch nach<br />
Augustus mussten alle Erben der römischen Macht das vergilische<br />
Drehbuch memorieren. Doch man täusche sich nicht: bis in die<br />
sechziger Jahre des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts wurden Europas<br />
Gymnasiasten dazu erzogen, das in der Aeneis aufgestellte<br />
Programm zu verinnerlichen – ich gehöre wohl noch zu einer<br />
letzten Generation von alteuropäischen Lateinschülern, die<br />
anhand Vergils in die Geschichte <strong>und</strong> Programmatik unseres<br />
Kontinents eingeweiht wurden. Die Aeneis las man auf dem<br />
Münchener Gymnasium noch als Gr<strong>und</strong>buch europäischer<br />
Bildung, selbstverständlich im Original.<br />
Die Urszene Europas spielt sich auch<br />
hier zweistöckig ab – aber nicht so,<br />
dass oben eine junge Frau sitzt <strong>und</strong><br />
unten ein vitales Untier seine<br />
Bahnen zieht. Vielmehr finden wir<br />
unten einen exemplarischen Verlierer,<br />
einen besiegten Kämpfer, den trojanischen<br />
Flüchtling, <strong>und</strong> oben einen<br />
alten Mann, zu müde, um selbst zu<br />
laufen.<br />
An der Schlüsselstelle dieses Werks erfahren wir, was es mit<br />
Europa letztlich auf sich hat – <strong>und</strong> die Auskunft ist förmlich:<br />
Diese europäische Kultur <strong>und</strong> ihre politische Form ist die<br />
Gründung eines Mannes, der aus den Flammen floh <strong>und</strong> sich ein<br />
neues Leben suchte. Europa ist also ein Asyl für Verlierer, die<br />
eines Tages wieder obenauf sein werden. Die Urszene Europas<br />
spielt sich auch hier zweistöckig ab – aber nicht so, dass oben<br />
eine junge Frau sitzt <strong>und</strong> unten ein vitales Untier seine Bahnen<br />
zieht. Vielmehr finden wir unten einen exemplarischen Verlierer,<br />
einen besiegten Kämpfer, den trojanischen Flüchtling, <strong>und</strong> oben<br />
einen alten Mann, zu müde, um selbst zu laufen. Der Alte wird<br />
als Beutestück der Sohnestreue aus dem brennenden Troja mitgenommen<br />
– nicht zuletzt deswegen, weil man ihn noch für eine<br />
große Prophezeiung braucht – hierzu gleich mehr.<br />
Das also ist das Urbild, von dem wir Europas Sein <strong>und</strong> Denken<br />
herleiten: die Flucht aus der Niederlage in den Sieg. Wenn wir an<br />
Europa denken, müssen wir uns einen westlich gelegenen Zielort<br />
vorstellen, an dem ein Mann aus dem Osten nach epischen<br />
Irrfahrten landet. Dieser exemplarische Verlierer betritt europäischen<br />
Boden, um dort sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen<br />
– nach dem Willen der Götter, wie es heißt. Vergil lässt seinen<br />
Helden in Italien landen, als habe er schon die Meinung<br />
gehegt, man könne ein neues Leben im Gr<strong>und</strong>e nur in diesen<br />
Breiten beginnen. In der Antike konnte dergleichen nur als eine<br />
religiöse Frage beschrieben werden, während wir heute eher von<br />
einer Therapie durch Umsiedlung sprächen. Aber gleichgültig, ob<br />
man eine antike oder eine moderne Deutung wählt, man könnte<br />
sagen, Europa war <strong>und</strong> bleibt eine Umwandlungsanlage für<br />
Verliererdepressionen. Wo Niederlage war, soll Sieg werden.<br />
Genau das ist es, was dem Flüchtling auf italischem Boden<br />
widerfährt. Will man einen Verlierer in einen künftigen Sieger<br />
umrüsten, muss man ihm ein großes Schicksal auf den Kopf<br />
zusagen. Bei Vergil wird dementsprechend die erste Urszene<br />
Europas – die Flucht des Sohnes aus der brennenden Stadt –<br />
durch eine zweite ergänzt: den Abstieg des Sohns in die<br />
Unterwelt, wo ihm die Toten seine künftige Mission <strong>und</strong> die<br />
seiner Nachkommen prophezeihen werden. Wo sonst als in der<br />
Unterwelt wäre eine solche Vision anzusiedeln? Im sechsten<br />
Buch der Aeneis steigt unser Held zu den Schatten hinunter <strong>und</strong><br />
sucht die Region auf, in der die weissagenden Seelen residieren.<br />
Dort begegnet er dem Geist seines eigenen, inzwischen verstorbenen<br />
Vaters. Aus dem M<strong>und</strong>e dieses Mannes wird das<br />
Programm Europas verkündet – nicht umsonst hat das sechste<br />
Buch der Aeneis einen magischen Ruf. Es ist eine Stelle, die wir<br />
als junge Leute noch auswendig gelernt haben – eine Stelle, von<br />
der ich mich manchmal w<strong>und</strong>ere, dass sie in den aktuellen<br />
Auseinandersetzungen über die europäisch-amerikanischen<br />
Differenzen so wenig zitiert wird. Anchesis spricht zu seinem<br />
Sohn, indem er in die Ferne blickt, als habe er nicht ein<br />
Individuum, sondern ein Volk vor sich: „Du aber Römer, deine<br />
Aufgabe wird es sein, die Welt zu regieren.“ Da fallen die<br />
Schlüsselbegriffe, ohne die man die spätere Geschichte unseres<br />
Weltteils nicht versteht. Europa wird in der Hölle geweissagt,