12.12.2012 Aufrufe

Architektur und Politik - Landesinitiative StadtBauKultur NRW

Architektur und Politik - Landesinitiative StadtBauKultur NRW

Architektur und Politik - Landesinitiative StadtBauKultur NRW

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Ausgeschlossen wurden Ketzer, Juden, Homosexuelle, Leprakranke<br />

etc. Inquisition, Verbannung, Folter, Zuchthaus wurden zu Instrumenten<br />

der europäischen Selbstbestimmung. Als eine Folge dieser<br />

Abgrenzung entstehen mit Barock <strong>und</strong> Aufklärung erstmals<br />

genuin europäische Bewegungen der Kultur, des Humanismus.<br />

Erst der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling bemüht sich um<br />

eine souveräne Aneignung auch der islamischen Wurzeln der<br />

europäischen Kultur, er schreibt: „Was ist Europa, als der für sich<br />

unfruchtbare Stamm, dem alles vom Orient her eingepfropft <strong>und</strong><br />

erst dadurch veredelt werden musste? Wir können des letzteren<br />

nicht entbehren, offene, freie Kommunikation mit demselben<br />

muss sein, damit das alte Leben des 15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

schöner wiederkehre.“<br />

Etwa zur gleichen Zeit, als dies geschrieben wird, vollzieht sich<br />

ein anderer kulturhistorischer Prozess, der eine gemeinschaftliche<br />

Vorstellung von Europa nährt: In mehreren Ländern erscheinen<br />

zeitgleich Texte, die zunächst das Primitive <strong>und</strong> Volksk<strong>und</strong>liche<br />

aufwerten, dann aber regelrecht zu einer Entdeckung des Volkes<br />

<strong>und</strong> seiner Kreativität voranschreiten. Volksballaden <strong>und</strong> Märchen,<br />

Volkslieder <strong>und</strong> Sagen werden gesammelt. Man bew<strong>und</strong>ert in<br />

ihnen die kollektive Phantasie der mündlich überlieferten Erzähltraditionen,<br />

<strong>und</strong> man entdeckt die Wanderung <strong>und</strong> Aneignung<br />

von Stoffen in Europa. In gewisser Weise wird hier im literarischkünstlerischen<br />

Kontext die Demokratie begründet. Die Gesamtheit<br />

des Volkes ist kunstmündig <strong>und</strong> kunstfähig.<br />

Erst um diese Zeit, also im vorangeschrittenen 18. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

verbreitet sich der Begriff „europäisch.“ Seine Bedeutung liegt<br />

nicht allein in der Abwehr möglicher Invasoren <strong>und</strong> Feinde. Man<br />

sucht ihm eine substantielle Bedeutung zu verleihen. Zum<br />

Beispiel: Jonathan Swifts Roman „Gullivers Reisen“ erscheint<br />

1726. In der ersten Ausgabe wird für die Zuhause Lebenden die<br />

Bezeichnung „Engländer“ verwendet, in den späteren Ausgaben<br />

werden die „Engländer“ durch die „Europäer“ ersetzt.<br />

Dagegen schreibt einer der wichtigsten Anwälte der Volksphantasie,<br />

nämlich Johann Gottfried Herder in den „Briefen zur Beförderung<br />

der Humanität“: „Am wenigsten kann also unsere europäische<br />

Kultur das Maß allgemeiner Menschengüte <strong>und</strong> Menschenwerte<br />

sein; sie ist kein oder ein falscher Maßstab. Europäische Kultur ist<br />

ein abgezogener Begriff, ein Name. Wo existiert sie ganz? Bei<br />

welchem Volk? In welchen Zeiten?“ Übereinstimmend erklären<br />

Lord Byron <strong>und</strong> Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Europa sei müde<br />

<strong>und</strong> erschöpft, eine Erneuerung der Kultur von Amerika zu erwarten.<br />

Erst die Heimkehrerliteratur, die schon Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

einsetzt, entwirft – bei Gottfried Keller wie bei Ferdinand Kürnberger<br />

– von den USA ein Bild der Enttäuschten, vom Materialismus<br />

ins Abseits geschobenen Verlierer des Kapitalismus.<br />

„Europatriotismus – Zur Metamorphose eines Ideals“ Dr. Roger Willemsen<br />

„Wo es keine Grenzen gibt, da gibt<br />

es auch keine Kriege.“ (Hubermann)<br />

Dennoch, was bleibt, ist die suggestive Kraft jener Idee von den<br />

„Vereinigten Staaten von Europa“, die Richard Graf Coudenhove-<br />

Kalergi beschwört, <strong>und</strong> die aus dem „Ersten Paneuropäischen<br />

Kongress“ in Wien ein Ereignis macht. Dort konstatiert am<br />

3.10.1926 Bronislaw Huberman in seinem Vortrag: „Eine geistige<br />

<strong>und</strong> körperliche Befreiung der Bewohner unseres Erdteils, dies<br />

<strong>und</strong> nicht weniger bezweckt Paneuropa.“ Denn: „Wo es keine<br />

Grenzen gibt, da gibt es auch keine Kriege.“<br />

Gewiss war es leichter, für Europa zu sein, als Europa noch für<br />

eine Idee stand, für Frieden, Völkerverständigung, Sicherheit.<br />

Doch eines Tages misstraute man dem Frieden nicht mehr,<br />

Völkerverständigung wurde Tagesgeschäft <strong>und</strong> die Sicherheit war<br />

kein primär europäisches Projekt mehr. Also traten Handelspartnerschaften,<br />

Wirtschaftsabkommen <strong>und</strong> Verwaltungsfragen in<br />

den Vordergr<strong>und</strong>. Der Pragmatismus erreichte Brüssel, erkennbar<br />

am Zuwachs der Bürokratie, hinter der eigentlich keine Vision<br />

mehr gefragt war.<br />

Dieses Brüssel wurde die Hauptstadt der Realpolitik <strong>und</strong> zugleich<br />

eine Art Timbuktu, der entlegenste Ort, einer, ohne Zusammenhang<br />

zur Lebenswelt der Bürger, eine Vereinigung der Institutionen,<br />

nicht der Köpfe. Die Bürger trauen den eigenen Regierungen<br />

mehr als der europäischen, anders gesagt: sie misstrauen den<br />

ausländischen <strong>Politik</strong>ern noch mehr als den eigenen, wollen es<br />

kaum wahrhaben, dass über 50 Prozent aller in Deutschland geltenden<br />

Gesetze in Brüssel durchgesetzt wurden, <strong>und</strong> das, wie<br />

50/51

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!