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Architektur und Politik - Landesinitiative StadtBauKultur NRW

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Europatriotismus – Zur Metamorphose<br />

eines Ideals<br />

Dr. Roger Willemsen<br />

Publizist/Produzent, Hamburg<br />

Unter den Völkern der Erde sind die Deutschen vermutlich die<br />

Identitäts-Weltmeister. Nie hat man einen Senegalesen von seiner<br />

senegalesischen Identität reden hören, doch unter Deutschen<br />

ist es ein feuilletonistisches Saison-Geschäft, zu fragen, bin ich,<br />

kann ich, darf ich mit meinem Lande identisch sein?<br />

Nun dehnen die Abendländer diese Frage auf ihren Kontinent<br />

aus, der nicht ein geographischer allein, nein, der ein seelischer<br />

Kontinent sein soll. Über diesen denken sie gern in architektonischen<br />

Metaphern. Die Vertragswerke sind die Säulen, die das<br />

Dach Europas tragen sollen. Doch ist das Haus Europa eher ein<br />

Zweckbau oder ein Bauherrenmodell? Ist der Europäische Traum<br />

ein Traum vom Eigenheim oder von der denkmalgeschützten<br />

Wohnanlage in Eigentümergemeinschaft?<br />

Der spanische Philosoph Ortega y Gasset nannte Europa ehemals<br />

vermessen „den einzigen Erdteil, der einen Inhalt hat“. Im<br />

Augenblick scheint dieser Erdteil wieder einmal auf der Suche<br />

nach seinem Inhalt. Europa sucht sich selbst, doch es sucht an<br />

sich vorbei. Denn gibt es einen fühlbaren Mangel, auf den die<br />

Antwort „Europa“ hieße?<br />

Machen wir es nicht zu klein: Es handelt sich um ein historisch<br />

einzigartiges Einigungsprojekt. Machen wir es nicht zu groß: Es<br />

handelt sich um ein wirtschaftlich-strategisches Projekt mit<br />

erkaltetem Herzen. Wann schlug dies heißer?<br />

Bei der Entstehung Europas vermischten sich, so der Historiker<br />

Marc Bloch, die alt eingesessenen Mitglieder des lateinisch-sprechenden<br />

Römischen Reiches, mit den aus England, Nordgallien<br />

<strong>und</strong> Germanien herangezogenen Barbaren, Hippokrates nennt<br />

diese Europäer „kampfeslustig“ <strong>und</strong> „freiheitsliebend.“<br />

Gemeinschaftlich war ihnen das Christentum. Um das Jahr 1000<br />

kamen durch neuerlichen Übertritt zum Christentum Slawen,<br />

Ungarn <strong>und</strong> Skandinavier dazu, zuletzt <strong>und</strong> zwar bis zum 15.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert, noch Preußen <strong>und</strong> Litauer. Doch alle diese Völker<br />

definierten sich in ihren Staatsgebilden – anders als die muslimischen<br />

Länder – nicht durch ihre Religion.<br />

Das sollte sich für die Idee der Völkergemeinschaft ändern. Der<br />

erste deutsche Text, der eine Vision von der europäischen Gemeinschaft<br />

entwarf, wurde durch den Einspruch von niemand anderem<br />

als Johann Wolfgang von Goethe zunächst nicht veröffentlicht.<br />

Es war Novalis‘ Essay „Die Christenheit <strong>und</strong> Europa“. Novalis<br />

schwebte eine religiöse Kultureinheit vor. In der Einheit des<br />

Christentums suchte er die Einheit Europas.<br />

Dergleichen ist bis zum heutigen Tage bezeichnend für den synthetischen<br />

Eurozentrismus. Man bezieht sich gerne auf antike,<br />

vor allem griechische Wurzeln, doch Europa grenzt nicht ohne<br />

Folgen zu Wasser <strong>und</strong> zu Lande an den islamischen Kulturraum.<br />

Dennoch wird der mediterrane Islam eher ausgeblendet, der aus<br />

dem ägyptischen <strong>und</strong> vorderasiatischen Raum tief in die hellenische<br />

Kultur drang. Immerhin lagen Ephesos, Milet, Rhodos, Troja<br />

auf heute türkischem Gebiet, viele europäische Traditionen entstammen<br />

dem Vorderen Orient, <strong>und</strong> bei den Osmanen in<br />

Südosteuropa entwickelte sich wie im vorderasiatischen <strong>und</strong> im<br />

Mittelmeerraum, vor allem in den Naturwissenschaften, in<br />

Medizin, Mathematik <strong>und</strong> Astronomie eine fortschrittlichere<br />

Kultur. Die Tatsache, dass nach dem Zerfall Ostroms arabische<br />

Gelehrte mit bisher unbekannten Texten von Platon <strong>und</strong><br />

Aristoteles in die humanistischen Zentren Europas zogen, hat<br />

wesentlich zu jenem humanistischen Phänomen beigetragen, das<br />

wir Renaissance nennen. Heute leben 500 Millionen Christen in<br />

Europa, aber allein in Westeuropa etwa 15 Millionen Muslime.<br />

Ab dem 12. Jahrh<strong>und</strong>ert, so der Historiker Ferdinand Seibt, ist die<br />

Überzeugung, „Geld regiert die Welt“ verbreitet. Sie ist für die<br />

Entstehung des modernen Europas entscheidend <strong>und</strong> setzt auch<br />

die materialistische Überzeugung durch, dass der Boden, der<br />

Gr<strong>und</strong>besitz, Gr<strong>und</strong>lage des Ansehens, des sozialen Standes ist,<br />

eine Bedeutung, die er bis zum heutigen Tage symbolisch<br />

behauptet. Für das Europa der Kultur, der Ideologie, der Sitten<br />

<strong>und</strong> Werte aber hat man im Mittelalter leidenschaftlicher empf<strong>und</strong>en<br />

als heute.<br />

Dem islamischen Kulturraum <strong>und</strong> allem vermeintlich Nicht-<br />

Europäischen gegenüber grenzt sich dieser um die eigene<br />

Identität ringende Kontinent geradezu martialisch ab. Europas<br />

Selbstbewahrungsanstrengungen kulminieren, wie der Historiker<br />

Robert I. Moore schrieb, in einer „Gesellschaft der Verfolgung“.

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