SPORTaktiv Februar 2018
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Fotos: Privat<br />
Der 8. März 2006 stellte Dietmar<br />
Scherjaus Leben auf den Kopf. Ein<br />
Traumskitag mit Sonne und riesigen<br />
Neuschneemengen. Die letzte Erinnerung,<br />
die der Grazer für viele Jahre an<br />
diesen Tag hatte, ist die Fahrt im Sessellift:<br />
Er scherzt mit seinen zwei Freunden.<br />
Bis 2014 wusste Scherjau bloß aus Erzählungen,<br />
was folgte: Bei der folgenden Abfahrt<br />
wurden die Männer von einem 400<br />
Meter breiten Schneebrett erfasst. Skitourengeher<br />
gruben die Verschütteten aus.<br />
Scherjau überlebte, die Freunde nicht.<br />
Der topfitte Freizeitsportler erlitt einen<br />
Schädelbasisbruch, multiple Gesichtsschädelfrakturen,<br />
war stark unterkühlt,<br />
hatte vielfältige weitere Verletzungen.<br />
Einen Monat lag er im künstlichen<br />
Tiefschlaf.<br />
Im Jänner <strong>2018</strong> sitzt der nun 42-Jährige<br />
in einem Grazer Kaffeehaus und<br />
erzählt. Er spricht überlegt, offen, lächelt<br />
oft. Zwei Tage zuvor hatte er eine kleine<br />
Operation, eine Spätfolge der Verletzungen<br />
von damals. Es ist alles bestens,<br />
haben die Ärzte versichert.<br />
Lange Jahre war es ihm unmöglich,<br />
über das Unglück zu sprechen. Wenige<br />
Wochen vor unserem Treffen hat er beim<br />
Lawinensymposium der Naturfreunde<br />
Österreich öffentlich über das Erlebte berichtet.<br />
Scherjau will aufklären, aber keineswegs<br />
jemanden vom Skitourengehen<br />
oder Geländeskifahren abhalten. Und er<br />
sagt auch: „Darüber zu sprechen, ist für<br />
mich auch ein Teil der Aufarbeitung.“<br />
Leben mit Schuldgefühlen<br />
Von Jugend an war der gebürtige Kärntner,<br />
der fürs Studium nach Graz übersiedelte,<br />
vielfältig sportlich: Klettern<br />
im oberen 9. Grad, Bergsteigen in den<br />
08.03.<br />
2006<br />
Dolomiten und Westalpen, Bouldern<br />
im Yosemite Valley. Ein hervorragender<br />
Badmintonspieler. Natürlich Skifahren.<br />
In der Rehabilitation musste er erst<br />
das Gehen wiedererlernen. Die körperlichen<br />
Verletzungen waren nur die eine<br />
Seite – das Unfalltrauma reichte viel<br />
tiefer. Beispiel: „Eine Schneefeldquerung<br />
war mir zu Beginn unmöglich.“ Längeres<br />
Konzentrieren auch. Wurde Scherjau<br />
müde, kamen dunkle Gedanken. „Zwei<br />
Dinge haben mich ständig beschäftigt.<br />
Erstens die Schuldfrage, weil zwei<br />
Freunde gestorben sind, die mir vertraut<br />
haben. Ich war im Gelände der Erfahrenste.<br />
Zweitens die Frage, warum gerade<br />
ich von uns drei überleben durfte.“<br />
Der eine Freund hatte schon Kinder.<br />
Der andere war ein Spitzenkletterer. Beide<br />
hätten ein Überleben mehr verdient<br />
– „das habe ich mir eingeredet.“<br />
Alte Sportfreude wollte Scherjau lange<br />
nicht treffen. Auch wegen des Wissens,<br />
sportlich nicht mithalten zu können.<br />
Beim Badminton traf er keinen Ball.<br />
Klettern war ohne Kraft in der linken<br />
Hand nicht möglich. Mountainbiketouren<br />
machte er mit einer Hand trotzdem.<br />
Freundschaft, Sport, Liebe<br />
Der Sport hat ihm dennoch sehr geholfen<br />
– und gute Freunde. „Einen der<br />
heute besten hatte ich erst kurz vor dem<br />
Unglück kennengelernt. Er kletterte<br />
damals im sechsten Grad, wie er stolz<br />
anmerkte. Ich schmunzelte und schwieg.<br />
Auf Tour bemerkte er, dass ich der bessere<br />
Kletterer war und er sagte: ‚Steig du<br />
vor‘.“ Nach dem Unfall motivierte derselbe<br />
Freund Scherjau wieder zu gemeinsamen<br />
Touren. Ganz leichte zunächst,<br />
die sich langsam steigerten. „Auf einer<br />
Tour auf die Planspitze im Gesäuse sagte<br />
er mir wieder: ‚Steig du vor!‘ Dieses Vertrauen<br />
hat mir sehr viel gegeben.“<br />
<strong>SPORTaktiv</strong><br />
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