Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
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So hatte ich den <strong>Junge</strong>n am nächsten Tag wieder vergessen und dümpelte<br />
auf alten Pfaden durch den Morgen, als ich erneut an dem Fremden<br />
hängen blieb, wieder nur kurz, wieder stand er auf den Stufen<br />
und war wie verreist aus sich selbst. – Was sieht er nur? – fragte ich<br />
mich gefangen von seiner Abwesenheit, die so zielstrebig war. <strong>Die</strong>smal<br />
vergaß ich ihn nicht mehr und drehte mich mittags auf der Rückfahrt<br />
suchend nach ihm und seinem Vordach um. Nichts! Verwaist lagen<br />
seine Stufen und kahl. Am nächsten Morgen war er wieder da. Mit der<br />
Ruhe und Reglosigkeit, als ob seine Uhr nicht Stunden zählen würde,<br />
sondern Jahrhunderte. Ich weiß nicht, was es war, aber etwas von ihm<br />
schlug ein, in meinem kleinen Lebensvorgarten, direkt neben den<br />
Tauben mit den Krüppelbeinen, nur viele Nummern stärker. Warum<br />
fuhr der Bus immer so schnell durch Fluterschen? Ich begann mich<br />
morgens zu ärgern, schon wenn ich in das Fahrzeug einstieg. Man<br />
musste langsam an dem Langsamen vorbeifahren, um ihn unter die<br />
Lupe zu nehmen und damit vielleicht zu verstehen. Plötzlich wollte<br />
ich etwas begreifen. Fast renkte ich mir jetzt morgens den Kopf aus,<br />
während er unberührt von allem <strong>Die</strong>sseitigen dort stand, Tag ein Tag<br />
aus, monatelang, morgens, aber mittags nie.<br />
›Ich werde mit dem Fahrrad zur Schule fahren‹, sagte ich meinen<br />
Eltern, aber sie verboten es mir, wegen der stark befahrenen Landstraße.<br />
›Für Erdkunde brauche ich einen neuen Atlas‹, log ich ihnen vor,<br />
›aber einen guten‹, und den bekam ich. Und während ich langsam Laos<br />
und Vietnam, Birma, Kambodscha, Malaysia, China, Korea, Japan und<br />
die Philippinen durchstreifte mit meinen Fingern auf den Landkarten,<br />
fragte ich mich immer wieder: Was sieht er nur? Worauf wartet er?<br />
Es gab eine Tante von mir, die die Stammbäume aller Dorfbewohner<br />
unseres Ortes aller Zeiten und aller Generationen und auch die<br />
der Nachbarorte und also die der ganzen Welt in ihrem Kopf zu haben<br />
schien. Immer hatte ich sie scheußlich gefunden, sie fuhr Brötchen<br />
in den Dörfern aus und seufzte mindestens alle drei Minuten so tief<br />
auf, dass man glaubte ihr Herz risse gerade ein, wie eine alte Nylonstrumpfhose.<br />
Ich ging sie besuchen, nur um mich bei ihr unter Deckfragen<br />
nach dem Schindelhaus in Fluterschen und dessen Bewohnern<br />
zu erkundigen.<br />
›Das Bahlserhaus, das verkommene Ding, meinst Du, Norbert?‹<br />
fragte sie mich, ›Wozu willst Du darüber was wissen? Sind immer nur<br />
unordentliche Leute drin gewesen. Und jetzt sind da Typen, wo man<br />
wirklich nicht sagen kann, ob sie recht sind. Es ist nicht gut, wenn so<br />
viele Ausländer kommen, die kriegen immerzu Kinder!‹<br />
Wo waren dann aber all die Geschwister? dachte ich. ›Tante Edith,<br />
die haben aber gar nicht so viele Kinder!‹<br />
›Ach red nicht lauter Quatsch‹, unterbrach sie mich und wollte<br />
resolut zurückkehren zu ihrem Mürbeteig, den sie knetete.<br />
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