24.12.2012 Aufrufe

Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

So hatte ich den <strong>Junge</strong>n am nächsten Tag wieder vergessen und dümpelte<br />

auf alten Pfaden durch den Morgen, als ich erneut an dem Fremden<br />

hängen blieb, wieder nur kurz, wieder stand er auf den Stufen<br />

und war wie verreist aus sich selbst. – Was sieht er nur? – fragte ich<br />

mich gefangen von seiner Abwesenheit, die so zielstrebig war. <strong>Die</strong>smal<br />

vergaß ich ihn nicht mehr und drehte mich mittags auf der Rückfahrt<br />

suchend nach ihm und seinem Vordach um. Nichts! Verwaist lagen<br />

seine Stufen und kahl. Am nächsten Morgen war er wieder da. Mit der<br />

Ruhe und Reglosigkeit, als ob seine Uhr nicht Stunden zählen würde,<br />

sondern Jahrhunderte. Ich weiß nicht, was es war, aber etwas von ihm<br />

schlug ein, in meinem kleinen Lebensvorgarten, direkt neben den<br />

Tauben mit den Krüppelbeinen, nur viele Nummern stärker. Warum<br />

fuhr der Bus immer so schnell durch Fluterschen? Ich begann mich<br />

morgens zu ärgern, schon wenn ich in das Fahrzeug einstieg. Man<br />

musste langsam an dem Langsamen vorbeifahren, um ihn unter die<br />

Lupe zu nehmen und damit vielleicht zu verstehen. Plötzlich wollte<br />

ich etwas begreifen. Fast renkte ich mir jetzt morgens den Kopf aus,<br />

während er unberührt von allem <strong>Die</strong>sseitigen dort stand, Tag ein Tag<br />

aus, monatelang, morgens, aber mittags nie.<br />

›Ich werde mit dem Fahrrad zur Schule fahren‹, sagte ich meinen<br />

Eltern, aber sie verboten es mir, wegen der stark befahrenen Landstraße.<br />

›Für Erdkunde brauche ich einen neuen Atlas‹, log ich ihnen vor,<br />

›aber einen guten‹, und den bekam ich. Und während ich langsam Laos<br />

und Vietnam, Birma, Kambodscha, Malaysia, China, Korea, Japan und<br />

die Philippinen durchstreifte mit meinen Fingern auf den Landkarten,<br />

fragte ich mich immer wieder: Was sieht er nur? Worauf wartet er?<br />

Es gab eine Tante von mir, die die Stammbäume aller Dorfbewohner<br />

unseres Ortes aller Zeiten und aller Generationen und auch die<br />

der Nachbarorte und also die der ganzen Welt in ihrem Kopf zu haben<br />

schien. Immer hatte ich sie scheußlich gefunden, sie fuhr Brötchen<br />

in den Dörfern aus und seufzte mindestens alle drei Minuten so tief<br />

auf, dass man glaubte ihr Herz risse gerade ein, wie eine alte Nylonstrumpfhose.<br />

Ich ging sie besuchen, nur um mich bei ihr unter Deckfragen<br />

nach dem Schindelhaus in Fluterschen und dessen Bewohnern<br />

zu erkundigen.<br />

›Das Bahlserhaus, das verkommene Ding, meinst Du, Norbert?‹<br />

fragte sie mich, ›Wozu willst Du darüber was wissen? Sind immer nur<br />

unordentliche Leute drin gewesen. Und jetzt sind da Typen, wo man<br />

wirklich nicht sagen kann, ob sie recht sind. Es ist nicht gut, wenn so<br />

viele Ausländer kommen, die kriegen immerzu Kinder!‹<br />

Wo waren dann aber all die Geschwister? dachte ich. ›Tante Edith,<br />

die haben aber gar nicht so viele Kinder!‹<br />

›Ach red nicht lauter Quatsch‹, unterbrach sie mich und wollte<br />

resolut zurückkehren zu ihrem Mürbeteig, den sie knetete.<br />

22

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!