Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
›Bitte, Auguste‹, sagt Claudel, ›ich glaube, wir müssen mit Herrn Le<br />
Penseur sprechen, nicht über ihn. Verzeihen Sie bitte, Herr Le<br />
Penseur.‹<br />
›Ach‹, sagt der Denker, ›ich heiße Le Penseur, ich bin nicht der<br />
Denker.‹<br />
›Doch. Sie sind der Denker. Aber schön, warum sollen Sie nicht Le<br />
Penseur heißen‹, sagt Rodin.<br />
Der Denker bedeckt seine Blöße mit den Händen. ›Entschuldigen<br />
Sie, hätten Sie etwas zum Anziehen für mich?‹ Claudel holt einen<br />
Morgenmantel. Darin sieht der Denker auch nicht schlecht aus.<br />
Rodin beobachtet Claudel: sie wirkt irgendwie animiert. Er sollte<br />
den Denker schleunigst mit weiteren Modulen füttern, neben Weltwissen<br />
braucht er noch Episodisches. Vielleicht ›Früheste Erinnerungen<br />
E7F‹, ›Glückliche Kindheit E7F‹, ›Bewegte Jugend E7F‹, ›Romantische<br />
Episoden E7F‹? Zuvor Damasio fragen, zur Sicherheit.<br />
›Merkwürdig‹, sagt Le Penseur, ›im Moment habe ich nicht die<br />
geringste Ahnung, wer ich bin. Habe ich einen Unfall gehabt? Mir fehlt<br />
jede Erinnerung an mein früheres Leben. Bin ich verheiratet, gibt es<br />
Kinder? Wo sind meine Eltern?‹<br />
›Sie haben keine Eltern, Herr Le Penseur‹, sagt Claudel.<br />
›Ich bin ein Klon!‹<br />
›Nein, Sie sind eine Kreation‹, sagt Rodin, ›in aller Bescheidenheit<br />
darf ich sagen: meine Kreation.‹<br />
›Aha‹, sagt Le Penseur. ›Kann ich mal telefonieren, bitte?‹<br />
›Wen möchten Sie denn sprechen?‹ fragt Rodin.<br />
Nach einer kleinen Pause antwortet Le Penseur: ›<strong>Die</strong> Polizei.‹<br />
›Was will er von der Polizei, Camille?‹<br />
›Er traut uns nicht, Auguste. Bitte, Herr Le Penseur, vertrauen Sie<br />
uns. Sie müssen uns etwas Zeit geben, es ist möglich, Ihnen alles zu<br />
erklären.‹<br />
Claudel erzählt, Rodin ergänzt. Der Denker schlägt die Hände vor<br />
dem Gesicht zusammen, sagt: ›Es ist nicht einfach für mich.‹ Er steht<br />
auf: ›Ich brauche Klarheit. Der Umstand – falls alles stimmt, was Sie<br />
erzählen! –, dass Sie mich geschaffen haben, Monsieur Rodin, berechtigt<br />
Sie nicht, mich als Ihr Eigentum anzusehen. Ich bin vielleicht kein<br />
Mensch, aber in meiner persönlichen Würde komme ich einem Menschen<br />
gleich. Ich werde Sie als meinen Vater achten, aber ich beanspruche<br />
die Menschenrechte. Ich bin nicht Ihr Sklave.‹<br />
Rodin überlegt. Camille Claudel sagt: ›Natürlich, Herr Le Penseur,<br />
selbstverständlich.‹<br />
Der Denker lächelt ihr zu. ›Wüsste ich, wie ich mit Vornamen<br />
heiße, würde ich Ihnen das ›Du‹ anbieten.‹<br />
Claudel wird rot. Rodin kneift sich in den Arm. Nein, er träumt<br />
nicht.<br />
46