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Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

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estimmt wissen wir, dass der Schmerz gerade »dort« ist; er hat nicht<br />

immer einen deutlichen »Ort« im optisch vorstellbaren Raum, aber<br />

immer hat er einen präzisen Sitz, eine genaue Beziehung zu etwas in<br />

uns, zu einem Punkt an uns, einem Stück von uns.‹ 16 Doch ist die hier<br />

angeführte Spannung zwischen Neurophysiologie und Seelenkonzept<br />

nicht die einzig mögliche, wenn es gilt den Ort des Schmerzes zu bestimmen.<br />

<strong>Die</strong> Beziehung die Schmerzerfahrung und Raum unterhalten<br />

verweist auch auf die Mystik und auf ihr Fortleben in der mittelalterlichen<br />

Malerei. In dieser waren ein Raum der inneren Vorstellung und<br />

ein Raum der Transzendenz mit Blick auf den Körper im Schmerz eng<br />

verbunden, eine Konstellation, die gerade auch mit Blick auf Grünewalds<br />

Issenheimer Altar, eine Inkunabel der Schmerzdarstellung, ein<br />

Nachleben in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts führt. 17<br />

Gegen einen so gespannten Raumbezug der Schmerzerfahrung setzen<br />

moderne Fragen nach dem, was im Menschen schmerzt, auf die symbolische<br />

Dimension der Bestände des Raums und der Bezüge des<br />

Menschen zu diesen. <strong>Die</strong> Sprache des Schmerzes ist weder abstraktphysiologisch<br />

noch metaphysisch, sondern medial und in ihrem Ausdruck<br />

an den Körper des Sprechers und an dessen Raum gebunden.<br />

<strong>Die</strong>ser Bezug gibt dem Schmerz einen anderen Ort als Neurophysiologie<br />

oder Metaphysik und bleibt in den Künsten fortwährend aktuell.<br />

Während beide, auf je unterschiedliche Weise, den Schmerz des<br />

Menschen im Innern suchen, weisen diese auf die Oberfläche und den<br />

Umraum des tätigen Körpers. <strong>Die</strong>se These kann etwa bei Paul Valéry<br />

studiert werden, der nicht nur die Versuche des Monsieur Teste vorführt,<br />

den ihn zur Selbstbeobachtung zwingenden Schmerz in Begriffen<br />

der Musik oder der Geometrie zu ordnen, ihm zwischen den Polen<br />

einer Verwandlung von Erkenntnis in Schmerz und von Schmerz in<br />

Erkenntnis zu begegnen. 18 <strong>Die</strong>sen Versuchen wird eine für die Bedeutung<br />

des Prozessualen und des Räumlichen aufmerksame Strategie<br />

zur Seite gestellt, die sich der Opposition von Schmerzerfahrung und<br />

Erkenntnis entziehen. Valéry setzt einem Menschen, dessen Schmerz<br />

im medizinischen Wissen einsichtig wird, das Bild einer ›vegetativen<br />

Seele‹ entgegen. Der in diesem bezeichnete Mensch setzt auf die<br />

Bedeutung von Handlung und Gebärde, von sinnlicher Erfahrung und<br />

Duldsamkeit. Der Blick des Menschen ist vom Körper weg auf dessen<br />

Szene gerichtet, die Dinge der äußeren Welt gewinnen an Bedeutung<br />

und die Dimension des Raums wird aufgewertet, Prozessualität<br />

gegenüber einer Verdichtung im Werk, Offenheit und Durchführung<br />

einer – etwa botanischen – Klassifizierung gegenüber einer abgeschlossenen<br />

und abschließenden Ordnung. 19 Indem die Frage nach<br />

dem Schmerz von der Introspektion weg auf den Raum eines ›botanischen<br />

Trümmerfelds‹ 20 und einer ihm angemessenen Haltung gerichtet<br />

wird, gewinnen konkurrierend zur analytischen Klassifizierung<br />

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