Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
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IV. Was ist es, das schmerzt?<br />
Auf die Grenzen einer objektiven Beschreibung des Schmerzes in einer<br />
begrifflichen Sprache und auf die Rolle der Gebärde machte bereits<br />
Friedrich Nietzsche aufmerksam. Seine im vierten Teil der ›Dionysischen<br />
Weltanschauung‹ entwickelten Philosophie der Körpergebärde<br />
kann vor dem Hintergrund der Herausforderung des Menschen durch<br />
den Schmerz gelesen werden. 32 In der Spekulation über einen gesteigerten<br />
Menschen und eine neue Dichtung werden begleitende Vorstellungen<br />
des ›Gefühls‹ – Nietzsche nennt explizit den Schmerz – von<br />
einer exklusiven Bindung an die physis gelöst, der Körper vielmehr, im<br />
Bündnis mit Vorstellung und Einbildung, der Sphäre der Künste unterstellt.<br />
<strong>Die</strong> Frage nach dem Schmerz ist als Frage nach seinem Ausdruck<br />
gestellt und damit – wie bei Nietzsche – auf die Gestik, auf den<br />
Raum und die Prozessualisierung des Körpers bezogen. Sowohl Subjekt<br />
als auch Objekt der Frage können als ein Problem der Sprache des<br />
Menschen gedacht werden. Auf die Frage nach dem Schmerz des<br />
Menschen kann aus dieser Perspektive wie folgt geantwortet werden:<br />
Der Schmerz ist die in Gesten symbolischer Arbeit ausgedrückte Erfahrung<br />
einer nicht aufzuhebenden Grenze, einer Spannung zwischen<br />
Natur und Kultur des Menschen In dieser Spannung kann der<br />
Schmerzempfindung als einer an die symbolische Ordnung gebundene,<br />
diese zugleich potentiell bedrohende und bildende Energie jenseits<br />
der Physiologie kein präziser Ort zugewiesen werden, der anderes<br />
wäre als eine fingierte Unmittelbarkeit. 33 Sowohl physiologische Konzepte,<br />
die den Schmerz im Aufbau des Körpers etwa in der Großhirnrinde<br />
lokalisieren, als auch metaphysische Entwürfe, die ihn in der<br />
Seele des Menschen verorten, taugen nicht, die symbolische Dimension<br />
der Schmerzerfahrung zu erfassen. Das, was im Menschen schmerzt,<br />
ist am ehesten im Übergang in eine Sphäre philosophischer Kultur zu<br />
fassen, in der auch der Körper des Menschen in dessen symbolischen<br />
Vermögen verwandelt wird. Jenseits derer hat der Schmerz keinen Ort.<br />
In Konkurrenz zu neurophysiologischen und metaphysischen Bestimmungen<br />
findet der Schmerz seine Platzierung in einer Tätigkeit und in<br />
einer Prozessualisierung, die auf den gestischen Körper des Menschen<br />
und auf Raum eines in diesem zu gestaltenden, auch nicht menschlichen<br />
Körpers bezogen bleibt. Das was im Menschen schmerzt erweist<br />
sich zu großen Teilen als ein Problem seines Ausdrucks, der Schmerz<br />
selbst eben nicht als eine symbolische Form, sondern als eine in diese<br />
eingestellte Energie des Menschen. <strong>Die</strong>se kann – wird der Bezug zur<br />
symbolischen Ordnung gestört oder gelingt es nicht, sie gegen die<br />
Schmerzerfahrung wieder zu etablieren – sowohl in die den Menschen<br />
umfangende Dumpfheit des sinnlichen Bewusstseins führen, wie – im<br />
umgekehrten Fall – in die Sphäre einer philosophischen Kultur, in der<br />
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