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Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

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V. Mutterliebe II<br />

Sie liebt ihren Sohn. Mit seinen blonden zarten Haaren sieht er aus<br />

wie ein Mädchen. Er ist ein lieber Kerl, manchmal etwas wild, klettert<br />

über Sofa und Tisch, aber nie böse. Seit zwei Jahren liebt sie ihn nun<br />

schon. Als er noch als namenloses Kind im Bauchwasser schwamm,<br />

war es keine Liebe, eher Fürsorge und Freude auf ein zukünftiges Kind<br />

im Hause. Sie sorgt für das Essen und die Spielsachen, geht mit auf<br />

den Spielplatz und beantwortet geduldig und hingebungsvoll seine<br />

Fragen oder spricht mit ihm, wenn er hilflos etwas zusammen stammelt.<br />

Sie lässt ihn nie alleine, freut sich am Nachmittag auf das<br />

Zusammensein und bringt ihn gerne ins Bett.<br />

Sie mag nur nicht, wenn er in der Küche neben ihr steht, wenn sie<br />

gerade Brot schneidet. Er fragt sie etwas mit seiner süßen Stimme,<br />

etwas kindlich Interessiertes. Vielleicht, was sie da mache. Sie steht<br />

mit dem Brotmesser vor ihm und stellt sich für einen kurzen Moment<br />

vor, wie es wäre, wenn sie jetzt zustöße in den kindlichen Unschuldsleib,<br />

in den einnehmenden Blick. Ihr Leben könnte als beendet gelten.<br />

Ihr Sohn ist am liebsten mit ihr. Kommt der Vater ins Zimmer, der<br />

fast ebenso viel Zeit mit ihm verbringt, ruft der Sohn: ›Du nicht!‹, und<br />

er geht wieder aus dem Zimmer, der traurige Vater. Sie spricht mit<br />

ihrem Sohn darüber, vielleicht freut sie sich auch heimlich, nicht, weil<br />

sie ihrem Mann das Kind nicht gönnt oder anvertraut, eher schon, weil<br />

sie die Totalität des Anspruchs auf sich selbst genießt. Dann wieder<br />

nervt sie dieses ›Rock-Zipfel-Verhalten‹. Beim nächsten Mal besteht sie<br />

darauf, dass der Vater mit ins Bett darf, wenn der Sohn und die Mutter<br />

im elterlichen Schlafzimmer ein Bilderbuch ansehen. Das hilft auch.<br />

Danach spielt der Sohn mit dem Vater und sie kann etwas ruhen.<br />

Sie denkt manchmal noch an die Geburt, die hart war, aber nicht<br />

härter als die Geburten anderer Kinder anderer Frauen. Auch zwei<br />

Jahre später spürt sie manchmal noch die Risse zwischen den Beinen,<br />

manchmal, wenn sie länger auf Toilette sitzt. Dann blutet es hinten<br />

etwas. Auch das hört man oft, nichts Außergewöhnliches.<br />

Sie läuft gerne mit dem kleinen hellen, gutgelaunten Bub zum<br />

Spielplatz. Aber an der Ampel bleibt sie ungern stehen. Ihr Sohn steht<br />

vor ihr, sie hält ihn leicht an der Kapuze und sie denkt daran, wie<br />

es wäre. Wenn sie ihn jetzt weiter drückte, zwischen die windvoraustreibenden<br />

Laster, würde man den Moment des Aufschlages hören.<br />

Wie sie leiden würde. Sie überquert die Straße bei grün und denkt an<br />

die Enten im Park, die der Kleine mag und sicher füttern möchte. Sie<br />

haben Nachwuchs, jetzt im Frühjahr. Das ist schön.<br />

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