Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
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verfolgt werden. 7 Solche Beispiele werden nicht nur von einer Physiologie<br />
des Schmerzsinns abgelöst. Sie werden auch von den Künsten<br />
ergänzt, die sich dem gänzlich diesseitigen Menschen im Schmerz<br />
zuwenden. <strong>Die</strong> Schmerzerfahrung ist nicht nur ein prominentes Motiv<br />
von Literatur und bildender Kunst, sie geht auch in Künstlermythen<br />
und Selbstinszenierungen der Künstler ein. 8 Im zwanzigsten Jahrhundert<br />
kommt der Schmerz zwischen Metaphysik und Physiologie des<br />
Körpers insbesondere da ins Spiel der Künste, wo der Status des Körpers<br />
in seinem Maßverhältnis zum Bewusstsein des Menschen befragt<br />
wird. 9 Zugleich wird aus dieser Perspektive auch nach dem Verhältnis<br />
von Ausdrucksdynamik und strenger Form in der Gestaltung ästhetischer<br />
Produktivität gefragt. <strong>Die</strong> von der Schmerzerfahrung zu künstlerischer<br />
Arbeit, zu Einbildungskraft und Sprache unterhaltenen Verbindungen<br />
verweisen den Schmerzsinn nicht nur in den Bereich einer<br />
historischen, sondern gerade auch in den einer ästhetischen Anthropologie.<br />
Denn in den Künsten wird nicht nur eine je historische und<br />
spezifische Fassung der Schmerzerfahrung gegeben, umgekehrt haben<br />
die Verfahren und Ausdrucksformen ästhetischer Produktivität auch<br />
Einfluss auf deren Konzeption. <strong>Die</strong> in einer ästhetischen Anthropologie<br />
beschriebene, auf die Rolle der Einbildungskraft in der Hervorbringung<br />
und Erhaltung des Lebens bestehende Bildung des Menschen<br />
ist nach dem Austritt aus den Begrenzungen der natura naturans<br />
gerade auch auf die Kompetenz der kulturell figurierten Sinne und<br />
ihre Erfahrung verwiesen. Radikal wie in kaum einer anderen Sinneserfahrung<br />
werden gerade in der Interpretation der Schmerzerfahrung<br />
die Möglichkeiten und Grenzen eines sich in der Anwendung von Verfahren<br />
der Künste bildenden ästhetischen Menschen vermessen. Doch<br />
sowohl die Beschränkung des Schmerzsinns auf ihn objektivierende<br />
Konzepte der Physiologie als auch seine pathetische Aufladung in<br />
einer Metaphysik des Leidens – die in der christlichen Ikonographie<br />
eine starke Tradition besitzt – haben dazu beigetragen, dass seine<br />
Rolle als eine an die symbolischen Formen des Menschen gebundene<br />
psychische Energie in der Geschichte des Körpers und der Einbildungskraft<br />
vernachlässigt wird. Der Schmerz wird wie die Endlichkeit<br />
der Existenz, auf die er verweist, als ein Anderes und Fremdes aus<br />
dem Bestand eines als Teil philosophischer Kultur geführten Lebens<br />
ausgeschlossen. Zwischen den immer weiter auseinander tretenden<br />
Polen von rationalistischer Physiologe und romantischer Empathie 10 ,<br />
denen eine je eigene, konkurrierende Sprache des Leidens zugehörig<br />
ist, können in einer ästhetischen Anthropologie des Schmerzes jedoch<br />
auch alternative Antworten auf die Frage nach dem Schmerz des<br />
Menschen verzeichnet werden: Antworten, die Schmerztherapie nicht<br />
ersetzten, Antworten, die jedoch an die Stelle von Schmerzmetaphysik<br />
treten können und den Schmerz nicht nur als Hinweis auf eine Bedro-<br />
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