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Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

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gebärde zwischen den Polen des Natürlichen und des Kulturellen,<br />

rechnet sie jedoch in Opposition zur begrifflichen Sprache eher einem<br />

Bereich des natürlichen Ausdrucks zu. Der Schmerz sei in seiner<br />

Aktualität nicht leicht zu vergeistigen und unterbinde ›Hingabe und<br />

Handlung‹ ebenso wie seinen gestaltenden Ausdruck: In der Erinnerung<br />

sei er ›bildlos‹. Das ›Gedächtnis der Augen und Ohren‹ hingegen<br />

gilt ihm als ›bildhaft.‹ <strong>Die</strong> Konsequenz: ›Ich kann also den Schmerz<br />

dessen, der ihn hat, nicht eigentlich wissen und erkennen.‹ 24 Mehr<br />

noch: auch der, der ihn hat, könne sich als Mensch im Schmerz kaum<br />

begreifen, da er in der Gegenwart des Schmerzes ein Anderer werde.<br />

In dieser Zwischenstellung gilt es für von Weizsäcker, den Schmerz als<br />

eine ›schwebende Entscheidung zwischen Ich und Es‹ zu denken. 25 Der<br />

Schmerz führe ebenso stark aus der Welt heraus, wie er den Menschen<br />

mit dieser verbinde. Er gilt als der Ursprung einer ›Entwindung‹ des<br />

Ich-Seins von einem Nichtich-Seienden. Anders als die Physiologie, die<br />

dem Schmerzsinn gerade die Kompetenz abgesprochen hat, wie die<br />

anderen Sinne auch, einen offenen Bezug zur Umwelt des Menschen<br />

zu besitzen, gilt Schmerz in der Sicht von Weizsäckers gerade als<br />

ein initialer Beginn ›aller Entdeckung der Umwelt, als Wecker aus<br />

dem Traum unserer ungestörten Identität mit der Welt.‹ 26 In dieser<br />

Zwischenlage plädiert von Weizsäcker in Distanz zu den Naturwissenschaften,<br />

die nicht in der Lage seien, den Schmerz richtig zu denken,<br />

nicht nur für eine ›Sympathetik‹ gegenüber dem Lebendigen. 27 Er rät<br />

nicht nur zu einem religiös aufgeladenen Gehorsam dem Schmerz<br />

gegenüber, der ihm als der Vater des Menschen gilt. 28 <strong>Die</strong> Frage nach<br />

dem, was im Menschen schmerzt, wird von Weizsäcker als Frage nach<br />

dem ›Was des Sollens‹ gestellt. <strong>Die</strong>se sei nichts geringeres als die anzuerkennende<br />

Wirklichkeit des Menschen. 29 <strong>Die</strong>ser Haltung entspricht<br />

die Aufmerksamkeit für die Kraft der Geste sowohl im Ausdruck des<br />

Schmerzes wie auch im Umgang mit ihm. Schmerzlich sei der Mensch<br />

mit allem verbunden, das ›zerspringt, zerreißt, zergeht, zerstäubt.‹ Wie<br />

von einem zerbrechenden oder auch nur fallenden Glas sei der Mensch<br />

von der ›Gebärde des Verwundeten‹ schmerzhaft berührt. 30 Nicht begriffliche<br />

Sprache, sondern Ausdruck einer Gebärde die reziprok der<br />

Geste des Heiler entspricht, nicht aktive Handlung des Begreifens, sondern<br />

passives Erdulden des Begriffenen und des Ergriffen-Werdens<br />

verlange der Schmerz. Gegen ein naturwissenschaftliches Denken ruft<br />

von Weizsäcker die Kraft der Schmerz-Gebärde und der Geste des<br />

Heilers auf. In ihren Ausdrucksformen kann der spezifische Charakter<br />

des als ›Taterfahrung‹ lokalisierten Schmerzen zu einer Sprache kommen,<br />

die sich nicht in einer ›Geisterfahrung‹ und ihrer – in späterer<br />

Konsequenz neurophysiologischen – Beschreibung erschöpft. 31<br />

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