Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

Februar Die Enttäuschung
Als Kain in Ostdeutschland verhaftet und vor Gericht gestellt wird,
versucht er sich zu verteidigen. ›Der Vater‹, erzählt er tonlos, ›hat
meinen Bruder immer mehr geliebt als mich. Was ich auch tat, wie
sehr ich mich anstrengte, stets hat er ihn mir vorgezogen. Da musste
ich Abel erschlagen.‹ Ob er denn kein anderes Ventil für seinen Zorn,
seine Enttäuschung habe finden können, fragt ihn der Jugendrichter.
Er habe gelesen, sagt Kain, und er liebte das Buch ›Jenseits von Eden‹
von Steinbeck, wo Cal gegen seinen Bruder Aaron um die Gunst der
Menschen kämpft. Da habe er gespürt, wie sich etwas anbahnt in ihm.
›Und dann bist du zum Skinhead geworden?‹ setzt der Staatsanwalt
nach. Kain fährt sich über seinen geschorenen Kopf, kahl wie das
Ackerland, aus dessen Erde das Blut Abels schrie. Es schrie so laut,
dass es nicht auszuhalten war. Die anderen haben ihn festgehalten.
Und als er, Kain, zuschlug – immer wieder – da hatte er nur dieses
Brennen gefühlt, den schlimmsten Schmerz der Zurückweisung. Weil
er wusste, dass er nie so leben würde dürfen wie sein Bruder Abel, ein
Westdeutscher von Geburt. Der Schmerz brennt noch immer, unter
der Schädeldecke sitzt er. Er muss sich kratzen und fährt über sein ins
kurze Haar rasierte Kainsmal, das verbotene Kreuz.
März Das Opfer
Unter den reich verzierten Decken aus Damast liegt die zerbrechliche
Gestalt der greisen Maria. Schwer atmend erwartet sie ihren Tod,
findet kaum noch die Kraft, ihre Hand zu heben und die rings um
sie erscheinenden Engel zu begrüßen. Von draußen sind die Geräusche
Jerusalems zu hören, Gewehrsalven mischen sich in Menschenschreie,
von weiter weg dröhnt Bombenhall wie fernes Donnern. ›Der
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