Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie
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Jochen beerdigten wie gewöhnlich diesen aufwendigen und köstlichen<br />
Vogel unter ihren Gesprächen über Krankheiten, Gallensteine zum<br />
Beispiel und Blasenentzündungen. ›Also lustig ist das wirklich nicht‹,<br />
sagten sie nach jedem zweiten Satz, ›da fehlen einem doch die Worte‹,<br />
sagte die Tante und nahm Rotkohl und Brustfleisch nach, denn an<br />
Appetit fehlte es in unserer Familie niemandem, auch mir nicht. Ich<br />
liebe heute noch Rotkohl und den Truthahn meiner Mutter. Sie kaute<br />
gerade, als sie sich an einem Bild aus ihrem Krankheitsozean inspirierte.<br />
›Na, was noch passiert ist‹, sie legte ein Knöchelchen weg, ›der<br />
Jochen hat das Bienchen zum Tierarzt gebracht, der das arme Vögelchen<br />
abspritzen mußte. Ihre Füße waren fast ganz weggefault, von den<br />
ganzen Milben, sie fiel schon immer von ihrer Stange.‹<br />
So leicht war eine große Kinderfrage zu beantworten, keine<br />
Straßenbahnen sollte es mehr geben, keine Selbstmordattacken aus<br />
Gründen der Traurigkeit, die sie auf ihre eigenen Füße losgehen ließ,<br />
einfach nur Milben. ›Ist das so was wie Moose?‹ fragte ich Edith, um<br />
sie wenigstens für ihre Nacktheit der Welterklärung ein bisschen zu<br />
ärgern.<br />
›Norbert, das ist jetzt wirklich nicht mehr lustig!‹ ermahnte mich<br />
Jochen, aber seine Frau knusperte am abgenagten Schenkel des Weihnachtsbratens<br />
und ich hatte keine Fragen mehr. Was sollte jetzt bloß<br />
aus mir werden?<br />
Aber Abwege, einmal eingeschlagen, lassen einen nicht mehr los. So<br />
dachten meine Eltern über Sektierer, Drogenabhängige, Schönredner,<br />
sexuell Entartete und über mich.<br />
Sie waren also vorbereitet, als ich nach dem Abitur ankündigte,<br />
ich werde Kunst studieren. Sie waren sogar bereit, mir eine kleine<br />
Rente auszusetzen und sie besuchten mich ein paar Mal während<br />
meines Studiums an der <strong>Akademie</strong>. Sie mögen mich, schließlich wurde<br />
ich immerhin nicht schwul, sondern bekannt.<br />
Ja, es ist das passiert, was nicht mein Ziel war, ich wurde einer der<br />
wenigen meiner Schule, die von ihrer Kunst leben können. Ich könnte<br />
teure Weine trinken so viel ich will und meine Freunde in berühmte<br />
Lokale einladen. Stattdessen abonniere ich immer noch gerne Zeitschriften,<br />
die ich nicht wirklich verstehe und manchmal, ganz selten,<br />
finde ich in ihnen einen Artikel über mich.<br />
Dort werden meine Bilder gezeigt und ich, der Eigenbrödler, der<br />
ich immer geblieben bin und der mir ins Gesicht geschrieben steht,<br />
wie ich finde. Wenn ich die Texte übersetze oder auf deutsch lese,<br />
dann bin ich immer noch verblüfft über ihren Inhalt. Da wird vom<br />
großen Mystiker geredet, vom Virtuosen unter den Monochromen,<br />
vom Künstler mit religiösen Dimensionen. Meine Bilder seien nach<br />
dem Bildersturm, in agnostischer Zeit, eine Tür zurück ins Sakrale. Ich<br />
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