Preisfrage 2001 - Die Junge Akademie

Kalender der Schmerzen
Uwe Neuhold
Januar Das Vergessen
Halb erfroren, ein Schatten inmitten von Schatten, findet man Daidalos
in den Gedärmen der abgasverseuchten Stadt Paris. Männer in Uniformen
greifen ihn auf und einer von ihnen, ein ehemaliger Söldner
des Kaisers Claudius, herrscht ihn an, sich zu erklären. Der Greis
jedoch sackt unter ihren Händen zusammen, verbirgt sein Gesicht in
Pein und jammert leise unter dem Hupen der im Schneematsch vorbeirauschenden
Autos: Ihr Götter, wie habe ich euch verehrt! Euch
zum Gefallen wirkte ich Großes, schuf ewige Werke, ja ich war es, welcher
der schönen Pasipháë – des Helios’ Tochter – zum hölzernen
Gewande einer Kuh verhalf, um Poseidons Meeresstier zu empfangen,
den Minotauros zu gebären. Nun aber ist es mir gleichviel wie
nichts...‹ Mit diesen Worten klaubt er zwischen Gerümpel eine wächserne
Feder hervor, schmutzig vom Staub der Zeit. Jene habe er dem
Ikaros gefertigt, seinem Sohn. ›Die Geschicke aber‹, klagt der Alte,
›ließen ihn abstürzen und so stürzte auch mein Rang, mein Name. Vergessen
bin ich von der Welt, von den Menschen. Und vergessen habe
ich mein Leben. Der finstere Schlund des Vergessens ist es, welcher
uns Sterblichen den größten Schmerz bereitet. Wir wollen Unsterbliches
schaffen, unseren lichthungrigen Söhnen ewige Begleiter sein.‹
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