Das Argument
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459<br />
II. Soziologie<br />
Boite, Karl Martin, und Katrin Aschenbrenner: Die gesellschaftliche<br />
Situation der Gegenwart. Beiträge zur<br />
Sozialkunde. Reihe B: Struktur und Wandel der Gesellschaft,<br />
Grundheft 1. C. W. Leske Verlag, Opladen 1963 (46 S., brosch.,<br />
4,50 DM).<br />
Der kurzgefaßte und didaktische „Beitrag zur Sozialkunde", der<br />
sich insbesondere der Schule Freyers, Gehlens und Schelskys verpflichtet<br />
weiß, beabsichtigt, die Präliminarien der speziellen Soziologien<br />
— „Gebilde", „Strukturen", „Prozesse" —, nämlich „ausgewählte<br />
Eigenarten der heutigen» Gesellschaftsstruktur und die Stellung<br />
des Menschen in der Gesellschaft" darzustellen. Dieser Versuch<br />
ist durch zwei Verfahren gekennzeichnet: Einmal beschränkt er sich<br />
auf die bloße Deskription, zum anderen bezieht er die Darstellung<br />
der „gesellschaftlichen Situation der Gegenwart" aus einem Vergleich<br />
mit der „vorindustriellen Gesellschaft". Die Autoren gelangen so zu<br />
nur formellen Kennzeichnungen der Gesellschaft, wie sie z. T. schon<br />
in das allgemeine Bewußtsein eingegangen sind: die „starke innere<br />
Dynamik" der „neuen sozialen Strukturen" gegenüber der „relativ<br />
statischen vorindustriellen Gesellschaft", die Ausweitung der sozialen<br />
Verflechtungen, die Pluralität und Differenziertheit „gesellschaftlicher<br />
Gruppen und Werte", die Korrespondenz von Individualisierung<br />
und Vermassung, die außengeleitete Verhaltensorientierung,<br />
cultural lag etc.<br />
Erscheinen diese Bestimmungen hinsichtlich ihres Erkenntniswerts<br />
problematisch — z. B. die bloße Konstatierung eines „Wandels"<br />
oder die hypostasierte „Pluralität" linear und gleichrangig vorgestellter<br />
„Interessen" — so wird das Zentrum dieser Soziologie,<br />
nämlich die Auffassung von Gesellschaft als eines „Spannungsfeldes<br />
von Freiheitschancen und Steuerungstendenzen" fragwürdig, und<br />
zwar aus zweierlei Gründen: Erstens werden die „Steuerungstendenzen"<br />
der Gesellschaft als „Entlastung" der Individuen gefaßt, zweitens<br />
wird — wiederum in einem Vergleich mit der „vorindustriellen<br />
Gesellschaft" — auf den relativen Zuwachs an „Freiheitsgraden" hingewiesen.<br />
Der Einwand, der hier angebracht erscheint, richtet sich<br />
gegen die Konzeption eines aus der vergleichenden Betrachtung „vorindustrieller"<br />
und „industrieller" Gesellschaft hergeleiteten gesellschaftlichen<br />
Fortschritts, d. h. gegen die Auffassung, daß die bestehende<br />
Gesellschaft per se keinen gesellschaftlichen Fortschritt birgt.<br />
Offenbar wird hier die ideologische Rolle, die der bloße Vergleich<br />
von „vorindustrieller" und „industrieller" Gesellschaft spielt: Die<br />
Befriedung der bestehenden Antagonismen durch den Hinweis auf<br />
den relativen Fortschritt gegenüber der „vorindustriellen" Gesellschaft.<br />
Die Berührungspunkte dieser Soziologie mit dem offiziellen deutschen<br />
Neoliberalismus sind deutlich. So ist der abstrakte, „fakultative"<br />
Freiheitsbegriff (der nicht-assertorische Dahrendorfs), der durch<br />
„Wertsetzungen" seinen Inhalt erhält, in seinem nur individuellen