Das Argument
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II. Soziologie 465<br />
piell inkommensurabel und teilweise gar nicht meßbar sind, ist eine<br />
objektive Skala zur Feststellung einer Klassenstruktur nicht möglich.<br />
Gleichwohl mißt der Autor den Wertschätzungen der in verschiedenen<br />
Milieus lebenden Menschen als sozialen Tatsachen objektives<br />
Gewicht bei, „wenn sie ein Ausdruck des ,sozialen Bewußtseins'<br />
sind". (75)<br />
Die marxistische Klassentheorie gilt dem Autor als Synthese aller<br />
drei prinzipiellen Typen. Durch eine sehr genaue Analyse der politisch-revolutionären,<br />
ökonomischen und soziologischen Akzente im<br />
Marxschen Werk wird zugleich aufgezeigt, inwiefern Dichotomie,<br />
und zwar die Kreuzung jener drei dichotomischen Teilungen, die<br />
zentrale Stellung in dieser Klassenkonzeption einnimmt, und welche<br />
theoretischen und praktischen Funktionen den Elementen der Gradations-<br />
und der funktionellen Auffassung zukommen. Im zweiten<br />
Teil des Buches, der eingehenden Untersuchungen der inhaltlichen<br />
und terminologischen Verwendung des Klassenbegriffs gewidmet ist,<br />
kommt Ossowski zu einer bezeichnenden, als „Gesetz" formulierten<br />
Schlußfolgerung für die marxistische Klassentheorie: „... die Klassen<br />
werden um so mehr von dem Verhältnis zu den Produktionsmitteln<br />
bestimmt, der Besitz der Produktionsmittel wird in umso<br />
höherem Grade die zwischenmenschlichen Abhängigkeiten bestimmen,<br />
je mehr die Gesellschaftsordnung sich dem Idealtypus der<br />
kapitalistischen Gesellschaft der freien Konkurrenz nähert." (227)<br />
<strong>Das</strong> heißt: die marxistische Konzeption der Klasse trifft nach Ansicht<br />
des Verfassers nicht mehr die gesellschaftliche Situation der<br />
Gegenwart, nicht in sozialistischen, aber auch nicht mehr in kapitalistischen<br />
Ländern. In beiden Gesellschaftssystemen habe sich mit<br />
der technologisch-wissenschaftlichen Entwicklung und der ausschließlichen<br />
Orientierung am Leistungsprinzip eine Stratifikation nach<br />
dem Modell der Bürokratie herausgebildet; in beiden Systemen habe<br />
für die Gestalt der Sozialstruktur die Sphäre der politischen Macht<br />
ausschlaggebendes Gewicht; durch zunehmende Verflechtung von<br />
staatlichen und wirtschaftlichen Instanzen hätten in der Gegenwart<br />
auch im Kapitalismus unmittelbar ökonomische Beziehungen für die<br />
Sozialstruktur nicht mehr die gleiche Bedeutung wie im 19. Jahrhundert.<br />
Die Übereinstimmung zwischen den entgegengesetzten Gesellschaftsordnungen<br />
geht nach Ossowski so weit, daß für die Auffassung<br />
der Sozialstruktur das gleiche Konzept von „nichtegalitärer<br />
Klassenlosigkeit" gelte (127—149), von dem er bemerkt, daß es<br />
ebenso wie das funktionelle Schema stets von den „Verteidigern der<br />
bestehenden sozialen Ordnung, ob es sich um Agrippa, Theodoret,<br />
Spencer oder Stalin handelt", gebraucht werde. Revolutionäre hingegen<br />
„sehen die Welt im Aspekt der Dichotomie mit gegensätzlichen<br />
Attributen" (213). Einleuchtend wird demonstriert, daß die Wahl<br />
eines bestimmten begrifflichen Schemas zur Beschreibung der Wirklichkeit<br />
einer Sozialstruktur nicht auf terminologische Konventionen<br />
pi reduzieren ist, sondern von bestimmten praktischen Interessen<br />
und von theoretischen Annahmen über die gesellschaftliche Realität<br />
und ihre Entwicklung abhängt. Sebastian Herkommer (Berlin)