Das Argument
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374 Günther Anders<br />
protestieren und an den von der Allgemeinheit entweder ignorierten<br />
oder geduldeten oder anerkannten oder gepriesenen Greueln herumzumäkeln.<br />
In der Tat sind als .schmutzig' in die Geschichte kaum<br />
je diejenigen eingegangen, die Infamien begangen hatten, sondern<br />
immer nur diejenigen, die es sich vergeblich herausgenommen hatten,<br />
Infamien ,schmutzig' zu nennen und gegen diese zu protestieren.<br />
Nein, die Moral ist nicht mehr dieselbe wie die vor einem Vierteljahrhundert.<br />
Zwischen der Situation in Nazideutschland und der<br />
in den USA heute besteht ein fundamentaler Unterschied, und durchaus<br />
nicht zugunsten der USA. Wie unbezweifelbar auch die Tatsache<br />
sein mag, daß es damals in Deutschland Millionen von Mitwissern<br />
gegeben hat, die über die Lagergreuel dies oder jenes gewußt<br />
haben — trotzdem hätten diese Greuel damals niemals so abgebildet<br />
und deren Abbildungen niemals so millionenfach ausgebreitet<br />
und vorgeführt werden können, wie die heutigen amerikanischen<br />
Vietnamgreuel vor dem Publikum ausgebreitet und vorgeführt<br />
werden. Möglich geworden ist das natürlich allein dadurch,<br />
daß die wirtschaftlichen Herrschaftsgruppen die Bevölkerung ausschließlich<br />
als Konsumpublikum behandeln, und zwar so erfolgreich,<br />
daß auch diese nun schon nicht mehr fähig ist, sich anders denn als<br />
ein Konsumpublikum zu benehmen. Was man ihr sogar noch nicht<br />
einmal verübeln kann. Oder darf man von den Millionen, denen seit<br />
Jahr und Tag unterschiedslos alles und jedes (gleich ob Star-Hochzeiten<br />
oder brennende Häuserviertel in Watts oder Weltausstellungseröffnungen<br />
oder GIs, die vietnamesische Dörfer in Brand setzen,<br />
oder serialisierte Gangsterromane) im Zustande totaler Irrealisierung:<br />
nämlich als Filme oder TV-Pictures vorgesetzt worden ist,<br />
darf man von solchen Picture-Consumers verlangen, daß sie einer<br />
speziellen Sorte von pictures gegenüber plötzlich eine ganz neue und<br />
ungewohnte, nämlich eine moralische Attitüde einnehmen?<br />
Mores beibringen<br />
Dem Erbarmen verschlossen sind die Herzen der über Vietnam<br />
schreibenden Redakteure konservativer Zeitungen keinen Augenblick<br />
lang. Was ist für sie die Brandschatzung Vietnams? Gewiß,<br />
,ein furchtbares Unglück'. Aber nicht etwa nur — warum sollte man<br />
so unfair sein, ausschließlich die Leiden der Vietnamesen mitzuleiden?<br />
— durchaus nicht nur ein furchtbares Unglück für diejenigen,<br />
denen Gewalt angetan wird. Sondern auch für jene Ärmsten, die<br />
dazu verurteilt sind, Gewalt anzutun, also auch für die Amerikaner.<br />
,Von Diem bis heute', schreibt Louis Marton, immerhin der außenpolitische<br />
Ressort-Chef der .Presse', am 16. 8. 1967, ,von Diem bis<br />
heute ist Vietnam' (so nennt er den Angriff auf Vietnam) .zur grausamen<br />
Schule des Realismus für eine Weltmacht geworden.' Zur<br />
.grausamen Schule'? Und .geworden'? Wer um Gottes Willen hat<br />
denn diese Weltmacht dazu genötigt, die grausame Schule, auf der<br />
sie morden und brandschatzen als Alltagsbeschäftigungen lernt, zu<br />
absolvieren? Ist nicht, was Herr Marton ,Vietnam' nennt, vielmehr