Jahresschrift - Würzburger Dolmetscherschule
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Unterhaltung<br />
124<br />
ben in Gnade, wenn er Glück hatte, und die nur allzu<br />
reale Gefahr der ewigen Verdammnis. Die düsteren<br />
Bilder der Offenbarung waren ebenso wahr wie<br />
das Leid und die Entbehrungen des Diesseits. Und<br />
wenn die wenigen Reisenden, Kaufleute vielleicht,<br />
und Pilger, von den Wundern ferner Gegenden erzählten,<br />
dann waren diese ebenso wahr. Die Bilder<br />
dazu lieferte die eigene Fantasie.<br />
In den meisten Dorfkirchen hingen keine Bilder,<br />
und wenn, dann unbeholfene Szenen in wenig realistischer<br />
Darstellung. Bilder kannte der - sagen<br />
wir einmal, der 'normale' - Mensch im Mittelalter<br />
praktisch nicht, zumindest nicht Bilder im heutigen<br />
Sinn( 1). Und wenn die Menschen einander Geschichten<br />
erzählten, hatten diese ihre eigene Wahrheit,<br />
denn bestätigt wurden sie in der Vorstellung<br />
der Menschen, und dort mischte sich das selbst Erlebte,<br />
das selbst Gehörte und das selbst Dazuerfundene.<br />
Was der damalige Mensch nicht kannte, war<br />
die grundlegende Skepsis des modernen Menschen,<br />
dieses "Ich glaub's erst, wenn ich es mit eigenen Augen<br />
gesehen habe". Noch im digitalen Zeitalter, wo<br />
die Bilder im Handumdrehen manipulierbar sind,<br />
will der heutige Mensch Bilder als Beweis, und auch<br />
wenn er im Kino am liebsten über die special effects<br />
staunt, glaubt er an die Wirklichkeit der Bilder. Und<br />
sehr oft ist diese Welt, die ihm die Bilder zeigen,<br />
auch um einiges schöner als die Welt seines eigenen<br />
Erlebens, und gerade deshalb ist er ja so fasziniert<br />
von Bildern. Bilder sind geradezu ein Wert an sich.<br />
( 1) Die meisten Menschen hatten auch nur ein ungenaues<br />
Bild von sich selbst: die wenigsten hatten einen Spiegel!<br />
Obwohl es frühe Formen des Spiegels bereits in der Antike<br />
gab, wird für die meisten Menschen ein tauglicher Spiegel<br />
erst seit vielleicht vier, fünf Jahrhunderten greifbar.<br />
Und jetzt stellen Sie sich das bitte einmal vor: eine<br />
Welt ohne Bilder. Eine Welt, die nur aus sich selbst<br />
heraus existiert. Belebt nur durch Ihre Erinnerungen,<br />
Ihre Fantasie. Was gilt, was ist wahr? Wem<br />
trauen, wenn nicht sich selbst?<br />
Und die alten Geschichten?<br />
Die, die von Generation zu Generation weiterleben,<br />
die Geschichten von den Riesen im dunklen Gebirg,<br />
den Geistern in den Wassern, den Unholden im<br />
Unterholz - sind die etwa nicht wahr? Und die Geschichten<br />
von den Helden, die in fernen Ländern<br />
gefochten, dem Kaiser im heiligen Reich und den<br />
Königen von Böhmen und von Polen - diese Herren<br />
gibt es doch? Freilich, so und kaum anders wird es<br />
gewesen sein, damals schon und heute noch, so gewiss<br />
wie die Geschichten wahr sind von Noah und<br />
König Salomo.<br />
Für Gewissheiten braucht man keine Bilder; wahre<br />
Geschichten werden nicht wahrer, wenn man Bildchen<br />
dazumalt. In diesem Sinne ist das Mittelalter<br />
noch gar nicht so lange her. Die Allgegenwart der<br />
Bilder hat noch keine lange Geschichte. Sie ist ein<br />
Zeichen von Überfluss und Oberflächlichkeit; die<br />
Bilder werden in ihrer Fülle belanglos: ohne Belang,<br />
unwichtig, austauschbar. ( 2)<br />
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Märchen<br />
praktisch immer in einer undefinierbaren Zeit (es<br />
war einmal - irgendeinmal, once upon a time) stattfinden,<br />
und wenn eine Welt etwas deutlicher wird,<br />
( 2) Um Missverständnissen vorzubeugen: Man kann auch<br />
ganze Geschichten in Bildern erzählen. Auch das ist eine<br />
Kunst: die der Comics, der bandes desinées, der fumetti.