Jahresschrift - Würzburger Dolmetscherschule
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Theoretisch besteht kein wesentlicher Unterschied<br />
zwischen einer handschriftlichen Aktennotiz und einer<br />
mittelalterlichen Handschrift: beide sind manu<br />
scriptum, mit der Hand geschrieben: Manuskripte.<br />
Aber schon ein flüchtiger Blick offenbart den großen<br />
Unterschied, denn Aktennotizen sind halt doch<br />
eher vergänglich, die mittelalterliche Handschrift<br />
ist für die Ewigkeit geschrieben, sub specie aeternitatis.<br />
Das trifft umso mehr zu, wenn man bedenkt,<br />
dass die modernsten Speichermedien höchstens<br />
Jahrzehnte überdauern (USB-Stick max. 10 Jahre,<br />
CD ca. 50 und DVD vermutlich 100 Jahre), dass alle<br />
paar Jahre ein Systemwandel die alten Medien unbrauchbar<br />
macht (Disketten zum Beispiel kann man<br />
inzwischen zu den Floppy Disks auf den Sondermüll<br />
werfen), und dass so gesehen das neue Cloud Computing<br />
womöglich auch nur so ein Wölkchen am<br />
Horizont ist, das sich bald wieder verzieht. Manuskripte<br />
leben Jahrhunderte, und sie sind es wert.<br />
Wenn sie aus dem Mittelalter stammen, und das tun<br />
die meisten, sind sie auf Pergament geschrieben<br />
(Vellum).Es war dies eine aufwendig bearbeitete<br />
Tierhaut (vorzugsweise von neugeborenen Kälbern)<br />
und deswegen teuer. Nicht nur musste die Haut gereinigt,<br />
getrocknet, (mit Bimsstein) geschabt und<br />
gebleicht werden – so ein Codex verschlang eine<br />
ganze Kälberherde. Weil schon das Schreibmaterial<br />
so kostbar war, wurde das darauf Geschriebene<br />
mitunter wieder abgekratzt und die Fläche neu<br />
beschrieben – das nannte man „Palimpsest“, und<br />
mit modernen Techniken lässt sich mitunter der ursprüngliche<br />
Text (der ja älter und daher oft als Dokument<br />
wertvoller war) rekonstruieren.<br />
All dies geschah in sogenannten Scriptorien (fast immer<br />
in Klöstern) und diente vor allem einem Zweck:<br />
dem Vervielfältigen<br />
(Kopieren) von Texten,<br />
Jahrhunderte<br />
vor Johannes Gutenberg<br />
und erst recht<br />
vor Karl-Theodor<br />
zu Guttenberg. Cut<br />
and Paste war nicht<br />
drin: Ein Manuskript<br />
zu kopieren dauerte<br />
Monate, wenn nicht<br />
Jahre! In den großen Scriptorien bildeten sich Spezialisten<br />
heraus: Schreiber für den reinen Textteil,<br />
Künstler für die verzierten Initialen, Maler für die<br />
Bildseiten. Oft jedoch war der gesamte Text einem<br />
einzigen Schreiber (bzw. einer Schreiberin: es gab<br />
auch Frauen in Scriptorien) anvertraut, und da<br />
kommt man bei näherer Betrachtung aus dem Staunen<br />
nicht mehr heraus.<br />
evor wir zu den Beispielen kommen:<br />
Wie gingen die mittelalterlichen<br />
Spezialisten vor?<br />
Zunächst werden mit Zirkel und Griffel feine Hilfslinien<br />
gezogen („Radieren“ ging bedingt: man konnte<br />
mit einem Federmesser den Fehler vorsichtig<br />
abkratzen!), dann wurde mit einem Federkiel (Gänse-<br />
oder Schwanenfeder), der immer wieder nachgeschnitten<br />
werden musste, der Text geschrieben.<br />
Die dazu verwendete Tinte befand sich in einem<br />
(Rinder-)Horn (engl. inkhorn; daher der Ausdruck<br />
für übertrieben bildungslastige Ausdrucksweise: inkhorn<br />
terms). Eine gute, deckende Tinte herzustellen<br />
war eine hohe (und oft als Geheimnis gehütete)<br />
Kunst: die Mischung enthielt gewöhnlich Galle von<br />
Galläpfeln, Gummi arabicum, Ruß bei schwarzen<br />
und Eisen- oder Mennige (ein leuchtendrote, gifti-