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Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag

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Venedigs Elend also, sonst nichts geblieben <strong>und</strong> nichts zu hoffen, außer zwei neuen<br />

Fußgängerbrücken.<br />

Sehr wenig Bäume in der Stadt, sage ich zu J. - während ich Venedigs Hinterhof<br />

fotografiere (: ein zusammengestürzter Anbau, auf seinem Trümmerhaufen hockt ein<br />

geschlachteter grüner Trabbi, darüber an der Ziegelmauer buchstabiert Ockerfarbe<br />

für mich: HERZLICH WILLKOMMEN!) - wie könn' wir uns finden / auch ohne<br />

Linden, <strong>und</strong> auf einmal wird mir klar, das Deutschland aus dem Volkslied zu finden<br />

bin ich hierher gekommen, wo wir uns weichen uns nicht erreichen wo wir<br />

verhehlen <strong>und</strong> uns verfehlen wo wir uns fliehn & Leine ziehn.<br />

Auf dem Anger<br />

Später nochmal allein raus um zu telefonieren. Finde gleich die Post, auf dem<br />

größten Platz, dem Anger. (Anger heißt Dorfplatz, so J., aber im Bahlow steht:<br />

feuchte Wiese.) Die beiden Münzfernsprecher vor der Post verheißen: Westnetz<br />

direkt ohne Vorwahl! - der eine schluckt 2 Mark, ohne die Leitung freizugeben, in<br />

der anderen Kabine dunkelt & brummt es wie in einer Bärenhöhle. Aber keine<br />

Schlange & sofort Anschluß (21.30). Das ist so deutsch <strong>und</strong> doch nicht. N. sagt: Ein<br />

fremdes Land, von dem man dir einredet, es sei deins? - aber erfolgreich, ergänze<br />

ich, das ist die Begegnung mit der eigenen Vergangenheit, mit Kindheitsmustern,<br />

verstaubt ... ach, ich weiß nicht, erzähl ich dir später.<br />

Jetzt, am Abend, mehr Fußgänger auf den sonst leeren Straßen. In den Geschäften<br />

Westschmuck, Westkosmetika zu Westpreisen. 3 oder 4 Kinos, ein Programmkino<br />

sogar, nur Westfilme, mit den aktuell-üblichen Verwechslungstiteln: Im Reich der<br />

Spinner Das Schweigen der Wölfe Der mit der Nase tanzt Frauen am Rande der<br />

Leidenschaft.<br />

Das fremde Pfeifen, das ich als Ampelsignal für Blinde spät erkenne. Die Schilder<br />

DEUTSCHE BANK noch ziemlich provisorisch dem Staatsbankgebäude<br />

vorgehängt. Die Straßenbahnen, unansehnlich <strong>und</strong> laut. Es muß doch sehr<br />

anstrengen, alles so häßlich zu gestalten. Selbst der Zufall, vermute ich, ist ein<br />

besserer Designer.<br />

Versuche, den Vollmond über den leeren Hausruinen des Juri-Gagarin-Rings zu<br />

fotografieren. Es ist schweinekalt, als wolle man die zweite deutsche Welt<br />

einfrieren.<br />

Vor der Hofmauer:<br />

Trotz Kälte hätte ich Lust, noch einmal durch die Nachtstadt zu schlendern, kann<br />

nicht genug kriegen von der fremdvertrauten Welt, sehne mich - ja, wonach?<br />

Bei Mitternacht <strong>und</strong> Vollmondschein mit einer Elfe auf dem Anger tanzen - um<br />

die Hüfte trägt sie nur einen Nebelschleier - Sag, wie heißt du? - Lismona haucht sie<br />

durchs Silberhaar <strong>und</strong> hält den Kopf schräg - Vorsicht! Die Straßenbahn! Die Straßenbahn<br />

quietscht auf der Sumpfwiese, ihr entsteigt ganz in Schwarz eine Punkerin,<br />

eine Erfurter Punklady - Ey Udandra, haste was zu rauchen? Machste ne Mischung,<br />

die teiln wa uns? - Nä, nich hier aufm Anger, wenn die Bullen kommen, gibts wieder<br />

Streß, gehn wa zu mir, wa? - Die Birken tragen noch kein Laub, es blühn nicht mal<br />

die Buschwindröschen (Hä? Issn das?) - Es gab keinen / Busch. Schien // der<br />

Mond? / Es gab kein / Licht. Die / Birne war // kaputt.<br />

KLAUS BEHRINGER 151

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