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Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag

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Das geht ja auf einen Mythos zurück, nämlich auf den Goldregen, den Zeus<br />

in Danaes Schoß ergossen hat. Goldregen ist dann wieder Namensgeber für<br />

einen Baum. Was ist das, was dir in den Schoß fällt? Glänzend, golden?<br />

Ich könnte mir nun vorstellen, eine Aufgabe der Literatur wäre, den<br />

falschen Mythos zu zerstören, mit dem man uns zu überziehen versucht,<br />

<strong>und</strong> an den richtigen wieder zu erinnern.<br />

Es ist so, daß es natürlich auch einen Überdruß am Mythos gab. Die ganze<br />

wilhelminische Zeit, dieser ganze nachgeholte bürgerliche Klassizismus,<br />

wo jede Gattin eines Kommerzienrates als allegorische Figur der Güte oder<br />

der Caritas - recht verfettet - dargestellt wurde. Diese ganze Scheußlichkeit<br />

des Gründerstils, wo der ganze Mythos noch einmal zu Tode gemolken<br />

wurde, das wurde von der künstlerischen Avantgarde destruiert. Und ein<br />

Überdruß an diesen Sachen geht noch darauf zurück. Ich denke, daß wir mit<br />

dieser Zerstörung inzwischen wieder so weit gekommen sind, daß man<br />

Prämien aussetzen sollte für Leute, die überhaupt wissen, was gemeint ist.<br />

Das ist eine postmoderne Beschäftigung. Der Hauptfeind ist nicht mehr das<br />

Bürgertum, es gibt keins mehr, das eine kulturelle Verständigung erzeugt. -<br />

Was ich für mich behaupte, ist, daß der Mythos eine fortwirkende<br />

archaische Wahrnehmungsstruktur ist. Daß er wirkt, ohne daß du ihn kennst<br />

<strong>und</strong> daß viele Verrichtungen mit dem Mythos zusammenhängen. Zum<br />

Beispiel, daß man immer noch Hörnchen in Form von Hörnchen herstellt.<br />

In Wirklichkeit sind es die Hörner einer Kuh <strong>und</strong> von der Mondgöttin <strong>und</strong><br />

von Diana - das hält sich. Und du hast etwas damit zu tun, ganz weit,<br />

zivilisiert, entfernt von dem blutigen Anfang, wo Tiere geopfert wurden. Es<br />

ist ein Opfersubstitut, ein Hörnchen zu essen. Es ist ein Schaubrot, das die<br />

Gestalt eines Tieres hat, <strong>und</strong> stellvertretend findet das noch einmal statt,<br />

das, wozu Tiere früher verwendet wurden. Nämlich in der Tragödie auf dem<br />

Dionysos-Altar in Athen wurde ein Bock von einem Priester geschlachtet -<br />

der Tragos. Die Tragödie hängt mit Opfertieren zusammen, mit<br />

Sündenböcken. Das ist nun ein stellvertretender kultischer Akt für noch<br />

Schlimmeres - nämlich für Menschenopfer, die dargebracht wurden, um<br />

Götter zu besänftigen oder die Brisanz eines kultischen Augenblicks<br />

herzustellen durch die Aufregung des Tötens <strong>und</strong> des kultischen<br />

Schlachtens. Das geht in unser Triebleben <strong>und</strong> Vorstellungsleben ein. Diese<br />

Stellvertreterrolle - auch von Blumenopfern, Schnittblumen - eine ganze<br />

Industrie lebt davon. Sie werden überreicht. Es wird durch die Blume<br />

gesprochen. Die Blumen werden auf die Gräber gelegt. Wofür steht die<br />

Blume? Für das Abwesende, für den toten Menschen, der nicht mehr da ist.<br />

Oder ich führe durch die Blume eine sexuelle Rede. Zum Beispiel die<br />

Marienlilie mit dieser w<strong>und</strong>erbaren Narbe <strong>und</strong> den Staubgefäßen. Keuschheitssymbol,<br />

aber hervorragende Geschlechtsteile. Wir wissen seit Linné,<br />

daß Pflanzen sexuelle Wesen sind. Natürlich ist die Jungfrau Maria eine<br />

Nachfolgerin der Artemis, der Diana, <strong>und</strong> dieser ganzen wildgewordenen<br />

Frauen, die Jägerinnen waren <strong>und</strong> die Männer nicht an sich ranlassen<br />

wollten. Die Männer wollten sie immer erjagen <strong>und</strong> jetzt haben sie sie. Und<br />

dann gibt es das Einhorn, ausgerechnet als Keuschheitssymbol! Und wo<br />

verweilt es? Im Schoß der Jungfrau, sie streichelt das Horn. Diese ganzen<br />

SURFLÜGE 174

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