Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag
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efriedigt uns nicht hinreichend, so daß wir immer Angst haben, fixiert von<br />
unserer Sterblichkeit. Wenn wir aber als erfüllte Menschen leben würden,<br />
gesättigt von Wahrnehmung, Lust <strong>und</strong> Erkenntnislust leben könnten - dann<br />
ist der Tod ein Scheißdreck! So wie Epikur gesagt hat: Der Tod ist nicht zu<br />
fürchten, denn wenn ich bin, ist der Tod nicht, <strong>und</strong> wenn der Tod ist, bin ich<br />
nicht. Also wir haben nichts miteinander zu tun. Das gelingt uns aber nur,<br />
wenn wir - ich will mal bei dem Bild bleiben - in dieser<br />
Augenblicksbalance sind wie ein Surfer auf der Welle, wie ein<br />
Skateboardfahrer auf seinem Skateboard oder wie ein Radfahrer auf seinem<br />
Rad.<br />
Wir schreiben <strong>und</strong> erzählen, um nicht sterben zu müssen?<br />
Für mich war das ein ganz starkes Stimulans. Ich persönlich habe die<br />
geringste Todesangst ... wenn ich lebe. Hm.<br />
Und wenn du schreibst.<br />
Wenn ich schreibe, ja. Das ist eine menschliche Erfüllung. Das gilt<br />
natürlich genauso für andere Künste, auch für alles Reproduzierende, auch<br />
für die nachvollziehende Lust des Lesers, vorausgesetzt, er hat Lust beim<br />
Lesen <strong>und</strong> er kommt an diesen Punkt. Es wäre absurd, einem Geiger über<br />
Kopfhörer zu sagen: Weißt du übrigens, daß du sterben mußt? Da würde er<br />
sagen: Geh scheißen!, also ... Im Augenblick lebt er so gewaltig, daß ihn<br />
das wirklich nicht interessiert. Und der Tod ist auch absolut abwesend. Es<br />
sei denn, den Dirigenten trifft der Schlag, <strong>und</strong> das wird dann als sehr<br />
willkommener <strong>und</strong> erfüllter Tod bezeichnet.<br />
Um zum Seminar zurückzukommen, war deine Idee, als du das Seminar<br />
gegründet hast, das zu vermitteln: Durch Weitervermitteln von Literatur,<br />
durch Reden über Literatur zu leben?<br />
Sehr wohl. Ich denke auch, daß das keine Schnapsidee von mir ist, sondern<br />
wahr, <strong>und</strong> daß die Motivation bei anderen, die das treiben, vergleichbar ist.<br />
Und daß es wichtig ist, daß solche Leute miteinander zu tun haben, die produktiv<br />
<strong>und</strong> reproduktiv mit Literatur umzugehen verstehen. Ich habe mich<br />
didaktisch immer zurückgehalten. Ich denke, das geschieht, indem es<br />
geschieht <strong>und</strong> nicht, indem man Lehrmeinungen vertritt. Was ich jetzt sage,<br />
sage ich mit einem Körnchen Salz <strong>und</strong> einer Ironie - ist ja auch was<br />
Lächerliches. Aber dieser Austausch ist ganz wichtig, <strong>und</strong> es ist ein<br />
erotischer Austausch. Man kommt nicht nur wegen des Literaturprodukts,<br />
sondern man kommt auch wegen des Menschen, der es produziert. Die<br />
besondere Sache ist die sokratische Angelegenheit des Gesprächs, daß man<br />
mit Leuten über Literatur redet, mit den Hervorbringern redet. Und daß man<br />
immer noch diese schöne Reibung zwischen dem Produkt <strong>und</strong> dem<br />
Produzenten hat, die sich im gleichen Medium bewegen, nämlich der<br />
Sprache.<br />
Da du eben Sokrates angesprochen hast: Siehst du dich in der Rolle der<br />
Hebamme?<br />
Auf jeden Fall.<br />
Ist jeder im Seminar eine Hebamme?<br />
Das denke ich schon. Ich habe mir manchmal zur Geburt meiner eigenen<br />
Künste einen größeren medizinischen Beistand gewünscht. Das ist eine<br />
SURFLÜGE 165