Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag
Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag
Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
efindet. Ich wünsche mir Literaturprodukte von einer animalischen<br />
Klarheit, wie ein Tier, wie eine Pflanze, oder von einer mineralischen<br />
Klarheit, wie einen Kristall. Oder von einer ätherischen Klarheit, wie eine<br />
Wolke. Die Herausforderung durch Naturformen ist für mich sehr wichtig.<br />
Wenn wir als erkennendes Lebewesen auf unseren ... ich wollte sagen<br />
Höhepunkt, aber das ist auch sone Scheiße ... Wir haben die Chance, uns zu<br />
dieser animalisch menschlichen Form zu entwickeln, <strong>und</strong> die hängt sicher<br />
mit menschlich animalischen Äußerungsformen zusammen. Und sie hängt<br />
mit der Rede zusammen. Ich denke, daß die Rhetorik, die Poetik natürlich<br />
auf der Rede basiert. Die Rede lernt man nicht durch die Rhetorik, sondern<br />
die Rhetorik durch die Rede. Und die Rede findet nicht dort statt, wo eine<br />
Laudatio stattfindet, oder wo Universitätsreden aufs kläglichste vom Papier<br />
abgelesen werden - von erwachsenen Männern!, die nicht merken, daß die<br />
Leute, zu denen sie sprechen, ganz woanders sind in ihrer augenblicklichen<br />
Wahrnehmung. Die freie Rede wird auch ihren richtigen Weg gehen, wird<br />
nicht Adjektiv an Adjektiv reihen, sondern sie wird mit dem Finger zur<br />
Sache kommen. Sie wird sozusagen die Finger in die W<strong>und</strong>e des<br />
Gegenstands legen, mit dem sie sich beschäftigt. Sie wird mit dem<br />
Gegenstand der Erkenntnis wie der Jäger mit der Beute, wie der H<strong>und</strong> mit<br />
dem Hasen, umgehen. Ohne ihn zu erlegen! Oder um ihn subtil zu erlegen,<br />
auf menschliche Art, wobei der Gegenstand überlebt. Aber es ist Beute<br />
gemacht, Erkenntnisbeute. Ich denke, daß da die Bewegungsregeln, die des<br />
Laufens, des Herzschlags, des Rederhythmus, des Atemholens, eine Rolle<br />
spielen <strong>und</strong> daß sich da aller überflüssige Ballast, der der Erkenntnis,<br />
diesem Beutemachen, nicht dient, von alleine erübrigt <strong>und</strong> außen vor bleibt.<br />
So wie die Rede ein Surfen auf der Linie der Erkenntnis ist. Der Handke hat<br />
das neulich versucht ... oh, fällt mir der Titel nicht ein, müßt ihr<br />
nachschlagen. Es gibt ja diesen Begriff des Kairos, des gelungenen<br />
Augenblicks. Der Augenblick ist schnell vorbei, wie wir wissen. Und dann<br />
gibt es sozusagen die kairotische Linie: Wie folgt ein Augenblick auf den<br />
anderen? Wie komme ich durch einen Tag ohne Abfuck, ohne Zusammenbruch,<br />
ohne Frustration? Wie komme ich auf diese Bewegungslinie durch<br />
einen ganzen Tag? Und das hat der Handke in ... Versuch über den gelungenen<br />
Tag, so heißt es wohl, gemacht. Ich denke, daß die Poetik dahin zurückgehen<br />
muß. Der Dreisatz irgendwelcher Argumentation in Lob- oder<br />
Trauerreden ist abgeleitet in Wirklichkeit von redenden Menschen, die das<br />
von redenden Menschen gelernt haben, die nie eine Akademie besucht<br />
haben. Die Rede im Wirtshaus, auch das primitive Streitgespräch besitzt<br />
davon mehr als der Rhetorikprofessor, unter Umständen. Ich finde es<br />
zunehmend unerträglich, Walter Jens reden zu hören oder eine Rede<br />
ablesen zu hören.<br />
Für wie groß hältst du den Einfluß deiner Poetologie auf die Seminarteilnehmer?<br />
Die Bauernregeln werden sozusagen als Tip von Hausfrau zu Hausfrau weitergereicht.<br />
Das ist auch nicht schlimm, wenn man jemandem sagt, wo es<br />
einen anständigen Besen gibt oder einen Feudel oder Putzeimer. Aber das<br />
kann man auch woanders, z.B. in Benns Rede über Probleme der Lyrik,<br />
SURFLÜGE 170