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Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag

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sinken. Ich ging hinüber zum Fahrplan, schaute: !! sehr gut! Der Zug ging<br />

ja schon in einer Viertelst<strong>und</strong>e! Das war optimales Timing, wieder mal.<br />

Also sofort in die Telefonzelle, <strong>und</strong> ich erstaunte ob der mit Kugelschreiber<br />

<strong>und</strong> Edding aufs reichhaltigste verpornographierten Wände: eine<br />

Sixtinische Kapelle unserer niedrigsten Triebe, die ich mit einem Auge studierte,<br />

während das andere im Geldbeutel nach Groschen spähte. So ein<br />

Glück, gerade noch zwei Stück drin: Wenn Speicher leer, bitte zahlen!<br />

kannste haben, vermaledeites Groschengrab: so ... <strong>und</strong> so ... <strong>und</strong> jetzt die<br />

Nummer, hoffentlich bring ich sie noch auswendig zusammen ... oh Mann,<br />

das kracht aber ganz kriminell im Hörer, hoffentlich ist da kein Wackler in<br />

dieser gottverdammten ... : ?: Ja, ich bins, Rainer, aus Homburg, du weißt<br />

doch, ich wollte euch doch heute besuchen kommen ... ja ... so in einer<br />

St<strong>und</strong>e etwa könntest du mich am Bahnhof abholen, geht das? ..... ja fein,<br />

du, einwandfrei, vielen Dank, bis dann also. Klick. Hätten wir das auch<br />

erledigt, <strong>und</strong> nun hieß es nur noch warten: Bahnsteig 5, wenn ich mich recht<br />

entsinne.<br />

Der Fußgängertunnel zu den Bahnsteigen, reklamegesäumt, war angenehm<br />

kühl: auf den Plakaten eine Welt im Sontagsstaat, in merkwürdigem<br />

Kontrast zu der Tristesse des neonerhellten, grobgetünchten Backsteingewölbs:Karlsbergbierkennerwissenwarumdasreisebüromitdemserviceplusdaseinkaufspar<br />

ad<br />

iesimherzendercityurlaubvonanfanganhochzeitsnudelnmachenglücklichefa<br />

mili<br />

enzudenbahnsteigen5+6.<br />

Und wieder der Flash beim Übertritt ins Sonnenlicht: Ich hätte das verdammte<br />

Bier nicht trinken sollen. Doch wo die Not am größten, ist Hilfe am<br />

nächsten: Tatsächlich da stand der Zug, mein Zug, abfahrbereit; ich enterte<br />

gleich einen Waggon, <strong>und</strong> war erstaunt, mich als einzigen Passagier an<br />

Bord zu finden, auch sollte bis zur Abfahrt niemand mehr zusteigen. Seither<br />

habe ich es niemals mehr erlebt, daß meinetwegen ein ganzer Zug in<br />

Bewegung gesetzt wurde. Ich setzte mich ans Fenster <strong>und</strong> begann, mich wie<br />

ein Spitzenpolitiker zu fühlen. Der Wagen war angenehm schattig. Draußen<br />

mahnte die Trillerpfeife eines Bahnbeamten zur Abfahrt.<br />

Bald schon wehte mir der Fahrtwind die Frisur durcheinander, <strong>und</strong> ich<br />

ließ das sommerliche Land an mir vorüberziehen, erschrak, als ein<br />

gelangweilter Schaffner wie aus dem Boden geschossen neben mir stand:<br />

Fahrkarte bitte; <strong>und</strong> ebensoschnell war er auch wieder verschw<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

ich alleine im Waggon. Und draußen spielte sich der Sommer ab, glitt der<br />

Zug durch abgelegene Landstriche <strong>und</strong> Dörfer mit Schrebergärten,<br />

zeitunglesenden dicken Männern an Gartengrills, jungen sportlichen<br />

Burschen, ihren Golf GTI einseifend (<strong>und</strong> insgeheim den Sommer<br />

verfluchend: wegen der zermatschten Fliegen auf der Windschutzscheibe),<br />

Traktoren, die am Horizont ihre Bahnen zogen, Bahnhofsvorstehern, die die<br />

Bahnschranken noch von Hand bedienen mußten, aromatisch duftenden<br />

Wäldern, Baggerweihern mit regem Badebetrieb: alles serviert wie<br />

RAINER BERNI 52

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