Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag
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phantasievoll ausgestattet. Eine Wand war mit Zeitungen aus aller Herren<br />
Länder tapeziert; eine »Prawda« war auch darunter. Dann hingen da noch<br />
ein paar surrealistische Graphiken irgendeines Provinzkünstlers, vermutlich<br />
eines Bekannten des Wirts, alles recht wacker gearbeitet, auch wenn der<br />
Künstler sich nicht immer entscheiden konnte, ob er lieber Magritte oder<br />
Dali abmalen sollte. In der Ecke drängten sich ein paar Gestalten um einen<br />
Fernsehapparat, auf dem gerade irgendwelche bunt<br />
durcheinandergewürfelten Rockvideos zu sehen waren, ziemlich schlecht<br />
aufgenommen, oft verlor das Bild an Farbe, bekam Streifen oder setzte gar<br />
ganz aus, <strong>und</strong> die Musik hatte stark unter den Gleichlaufschwankungen des<br />
Videorecorders zu leiden. Dafür die »Spaghetti nach Art des Chefs« ein<br />
Hochgenuß - <strong>und</strong> kosteten nur 5 Mark. Nun, nach den Spaghetti, ein oder<br />
zwei R<strong>und</strong>en Flipper <strong>und</strong> Billard sowie hier <strong>und</strong> da einem Blick zum<br />
Videogerät waren schon gut anderthalb St<strong>und</strong>en vergangen, als die<br />
»Anderen« zur Türe hereinkamen.<br />
Die Anderen, das waren ein halbes Dutzend Bekannte von Thilo, darunter<br />
auch zwei oder drei, die ich schon von damals kannte, als sie bei meiner Jugendgruppe<br />
zu Besuch gewesen waren. Nach Konsum einiger Biere <strong>und</strong><br />
dem unvermeidlichen Blick zum Videogerät ging es an die Beratschlagung,<br />
was noch zu tun sei, worauf jemand bemerkte, oben auf der Burg sei was<br />
los. Ich konnte mir natürlich unter dieser Bemerkung nicht viel Konkretes<br />
vorstellen, <strong>und</strong> da meine diesbezüglichen Nachfragen schlichtweg ignoriert<br />
wurden, ergab ich mich schließlich stillschweigend in mein weiteres<br />
Schicksal <strong>und</strong> harrte der Dinge, die da kommen sollten. Zunächst aber kam<br />
noch gar nichts außer daß noch einige R<strong>und</strong>en Billard gespielt wurden, <strong>und</strong><br />
die Leute, die sich nicht daran beteiligten, eines dieser Motorradgespräche<br />
hielten, die weder einen Anfang noch ein Ende kennen, <strong>und</strong> in der Lage<br />
sind, einen Außenstehenden binnen 10 Minuten in den Wahnsinn oder doch<br />
wenigstens an einen anderen Tisch zu treiben. Ich entschied mich für das<br />
letztere <strong>und</strong> bezog einen leerstehenden Tisch mit guter Aussicht auf den<br />
Fernsehschirm: Im Moment war dort gerade eine Heavy-Metal-Band<br />
zugange; viele Nieten, sehr lange Haare <strong>und</strong> sehr grimmige Gesichter, so<br />
wie sichs gehörte: Selbst das obligatorische 20minütige Gitarrensolo fehlte<br />
nicht. Ich überlegte mir gerade, ob ich nicht doch lieber zurück zum<br />
Motorradgespräch gehen sollte, als man endlich zum Aufbruch rüstete.<br />
Die Sonne stand schon tief am Horizont, als wir die Kneipe verließen. Irgendwo<br />
von einem Dachfirst droben sang eine Amsel in die Straße<br />
hinunter. Das Sonnenlicht hatte eine sanfte, bernsteinfarbene Tönung angenommen:<br />
Das stimmte versöhnlich. Und so saß ich schließlich hinten im<br />
Fond von Thilos Kadett, der die Stadt mit unbekanntem Ziel verließ, eine<br />
der Weinflaschen aus der Tankstelle in der Hand (mit äußerst praktischem<br />
Schraubverschluß); auf dem Beifahrersitz einer der Herren aus der<br />
Motorradgesprächsfraktion, der gerade begonnen hatte, die Zutaten zu<br />
einem Joint auf dem Deckel des Handschuhfachs zurechtzulegen. Der<br />
Abend hatte begonnen.<br />
RAINER BERNI 57