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Einhornjagd und Grillenfang.pdf - PoCul-Verlag

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Das Gemeinsame von Literatur <strong>und</strong> Gewerbe, wenn ich das richtig<br />

verstanden habe, wäre die andere Wirklichkeit. Die Literatur schafft eine<br />

andere Wirklichkeit, die vielleicht viel wirklicher ist als die Wirklichkeit,<br />

die es gibt.<br />

Zur Hierarchie würde ich sagen: Ich denke, daß die Wirklichkeit immer darüber<br />

ist <strong>und</strong> die Literatur darunter. Das Äußerste, was die Literatur<br />

erreichen könnte, wäre, auf das Niveau der Wahrnehmung von Wirklichkeit<br />

zu kommen.<br />

Wie die Naturalisten?<br />

Nein, weil es ja nicht nur das Niveau der Natur, sondern auch das der wahrnehmenden<br />

Menschen ist. Es ist eine Paarung der formalen Ausprägungen<br />

<strong>und</strong> Wirklichkeiten der außermenschlichen Natur - des biologischen, des<br />

mineralischen, des ganzen Weltsystems - mit uns selbst, als Naturwesen, als<br />

Lebewesen. Das heißt: Wir gehen auf unserem Gipfelpunkt der Wahrnehmung<br />

- auf unserem äußersten Lustpunkt der Erkenntnis, kann man auch<br />

sagen, ja? - eine Beziehung ein mit der Natur <strong>und</strong> mit der Wirklichkeit <strong>und</strong><br />

produzieren ein Drittes, das Literaturprodukt: ein Gedicht, ein Weißderteufelwas.<br />

Was, wenn ich dich richtig verstehe, eine Offenbarung dieses Lustprinzips<br />

ist.<br />

Offenbarung, ich weiß nicht. Eine Spur des Lustprinzips <strong>und</strong> des<br />

Erkenntnisprinzips. Eine Erkenntnisspur, die über den Augenblick der<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Erkenntnis hinaus dies fixiert <strong>und</strong> damit<br />

kommunizierbar macht, außerhalb dieses Augenblicks die Wahrnehmung<br />

reproduzierbar macht durch Lektüre usw. Im Gr<strong>und</strong>e eine sehr simple <strong>und</strong><br />

alte Geschichte.<br />

Du meinst also: Literatur entsteht aus der Sehnsucht, bestimmte Wirklichkeiten<br />

zu kommunizieren <strong>und</strong> zu diesem Zweck festzuhalten?<br />

Was machen wir jetzt? Wir reden. Ist das Literatur oder nicht? Nein, es ist<br />

vorliterarisch. Geredet wurde aber immer, <strong>und</strong> Redefiguren sind natürlich in<br />

der Literatur. Darauf basiert es, daraus entsteht es.<br />

Die Frage zielt auf das Entstehen von Literatur überhaupt.<br />

Es ist mir selber peinlich, daß man auf so gewaltige Begriffe kommt wie<br />

Liebe, Prostitution, Erkenntnis <strong>und</strong> Sex, aber der Sex ist ja sonst eher diffamiert<br />

- man muß natürlich vom Tod reden. Diese ganze Anstrengung wäre<br />

nicht nötig, wenn wir kein Todesbewußtsein hätten. Die beneideten Tiere<br />

haben es nicht <strong>und</strong> kommen zu ihrer animalischen Vollkommenheit ohne<br />

dieses Dritte, dieses Kunstprodukt. Wir nicht, weil wir nicht hinreichend<br />

leben <strong>und</strong> uns des Augenblicks nicht hinreichend vergewissern können. Wir<br />

sind nicht animalisch zu unserer eigentlichen Menschennatur befreit. Wir<br />

sind Mängelwesen, Vorzugswesen einerseits, die aber durch ihre<br />

Vorzüglichkeit zu dauerndem Unglück programmiert sind, weil sie niemals<br />

auf dieser Lustwelle ihrer Erkenntnis, was das Menschliche wäre, surfen<br />

können.<br />

Das zwingt uns dazu, diese Augenblicke wiederholen zu müssen.<br />

Ja. Wir Menschen empfinden sehr häufig, daß wir nicht leben. Daß - das ist<br />

der schöne linke dialektische Begriff - es ein Leben vor dem Tod gibt. Es<br />

SURFLÜGE 164

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