Begriff der Widerrechtlichkeit nach Art. 41 OR - Universität St.Gallen
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2 Objektive Sorgfaltspflichtverletzung als problematisches Kriterium <strong>der</strong><br />
100<br />
Wi<strong>der</strong>rechtlichkeit<br />
Wie <strong>nach</strong>folgend aufgezeigt wird, lässt sich jedoch bereits aus systematischen<br />
Überlegungen heraus mit dem <strong>Begriff</strong> <strong>der</strong> durchschnittlichen Sorgfalt (noch) kein<br />
angemessener Ausgleich <strong>der</strong> Interessen zwischen Schädiger und Geschädigtem<br />
erreichen.<br />
2.1.2 Notwendigkeit einer übergeordneten Wertehierarchie<br />
Die Berücksichtigung des Durchschnittsverhaltens als Massstab für die Grenze<br />
zwischen Sorgfalt und Unsorgfalt überzeugt nur, wenn dieses Verhalten dem Werturteil<br />
einer grossen Zahl von Personen entspricht und damit die Annahme zulässt,<br />
dass es sachlich gerechtfertigt sei. Dies trifft aber nur zu, wenn die richtige Hierarchie<br />
<strong>der</strong> Werte gilt. Wo die sachliche Rechtfertigung trotz vieler übereinstimmen<strong>der</strong><br />
Beurteilungen fehlt, ist nicht auf den Durchschnitt abzustellen. 340 Wenn z.B.<br />
die Mehrheit <strong>der</strong> Autofahrer auf einer <strong>St</strong>recke mit überhöhter Geschwindigkeit<br />
unterwegs ist, so ist damit die Überschreitung <strong>der</strong> Höchstgeschwindigkeit keineswegs<br />
gerechtfertigt.<br />
Das Durchschnittsverhalten ist nur dann als Massstab geeignet, wenn <strong>der</strong> durchschnittlich<br />
vernünftige Mensch bei seinem Verhalten die Interessen von Schädiger<br />
und Geschädigtem gleichermassen berücksichtigt. Versinnbildlicht wird dies im<br />
moralischen Appell: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem<br />
an<strong>der</strong>n zu!“ 3<strong>41</strong> Wenn man aber bereits mit dem Bild eines hypothetischen Durchschnittsmenschen<br />
hantiert, so dürfte das Bild des egoistisch und eigennützig handelnden<br />
homo oeconomicus wohl eher heranzuziehen sein als jenes des altruistischen<br />
Wohltäters. 342<br />
340 OFTINGER/STARK I, § 5 N 83.<br />
3<strong>41</strong><br />
In abgewandelter Form findet sich diese Maxime in <strong>der</strong> Bibel wie<strong>der</strong>: „Alles, was ihr<br />
für euch von den Menschen erwartet, das tut ihnen auch.“ (Die Bibel, Neues Testament,<br />
Matthäus 7, 12); „Seid zu den Leuten genauso, wie ihr auch von ihnen behandelt<br />
werden wollt.“ (Die Bibel, Neues Testament, Lukas 6, 31); „Was <strong>der</strong> Mensch sät, das<br />
wird er ernten.“ (Die Bibel, Neues Testament, Galater, 6, 7b).<br />
342<br />
Vgl. HOLMES, S. 144: „The true explanation of the reference of liability to a moral<br />
standard [...] is not that it is for the purpose of improving men’s hearts, but that it is to<br />
give a man a fair chance to avoid doing the harm before he is held responsible for it.“