Begriff der Widerrechtlichkeit nach Art. 41 OR - Universität St.Gallen
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Kapitel 4: Die Interessentheorie<br />
sen, <strong>nach</strong>dem das abwesende Mitglied längst überfällig ist. Es stellt sich später<br />
heraus, dass das Mitglied gestürzt und bewegungsunfähig im Schnee liegen geblieben<br />
ist. Es wurde zwar von einer weiteren Gruppe von Tourenskifahrern, welche<br />
Hilfe alarmieren konnten, zufällig aufgefunden, aber nicht bevor es bleibende<br />
Frostschäden davontrug.<br />
Der Geschädigte hat natürlich nicht nur ein Interesse, dass sein Leib und Leben<br />
o<strong>der</strong> sein Eigentum vor <strong>der</strong> direkten Verletzung durch einen Schädiger geschützt<br />
wird, er hat auch ein Interesse daran, dass ein potenzieller Schaden von ihm abgewendet<br />
wird. Dies setzt aber ein Aktivwerden an<strong>der</strong>er voraus, in diesem Beispiel<br />
die Suche <strong>der</strong> Tourenteilnehmer <strong>nach</strong> ihrem vermissten Mitglied. Es stellt sich nun<br />
die Frage, ob sich die übrigen Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gruppe auf den Grundsatz <strong>der</strong> befugten<br />
Untätigkeit berufen können, wo<strong>nach</strong> man grundsätzlich nicht zur Gefahrenabwehr<br />
zugunsten an<strong>der</strong>er verpflichtet ist, d.h., ob ihr Interesse, in die Berghütte zu<br />
gelangen und in <strong>der</strong> Wärme zu bleiben, das Integritätsinteresse des liegen gebliebenen<br />
Mitglieds überwiegt.<br />
Der Grundsatz <strong>der</strong> befugten Untätigkeit lässt sich damit begründen, dass weite<br />
Bereiche des Lebens eine potenzielle Gefährdung mit sich bringen. So bringt das<br />
Spazieren im Wald die Gefahr mit sich, dass man, was bei <strong>St</strong>ürmen immer wie<strong>der</strong><br />
geschieht, von einem Ast erschlagen wird, während die Teilnahme am Verkehr<br />
regelmässig mit dem Risiko eines Verkehrsunfalls verbunden ist. Man könnte diese<br />
Tätigkeiten allesamt auch als Fälle <strong>der</strong> Risikoübernahme seitens des Geschädigten<br />
betrachten. Demzufolge wäre bei einer Interessenabwägung auf Seiten des Geschädigten<br />
von dessen weitgehendem Verzicht auf den Schutz seines Integritätsinteresses<br />
auszugehen. Dem Interesse Dritter, nicht einzugreifen respektive nicht<br />
aktiv zu werden, würde damit kein schützenswertes Interesse auf Seiten des Geschädigten<br />
entgegenstehen. Eine Unterlassung wäre dem<strong>nach</strong> grundsätzlich nicht<br />
wi<strong>der</strong>rechtlich. Im Übrigen kann es auch nicht im Interesse des Geschädigten sein,<br />
dass er von Dritten von jeglichem potenziell schädigendem Alltagsverhalten abgehalten<br />
wird. Wollte man sich <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Haftung entziehen, müsste man den<br />
Jogger von seiner Laufrunde durch den Wald abhalten o<strong>der</strong> den Autofahrer an <strong>der</strong><br />
Wegfahrt hin<strong>der</strong>n. Der potenziell Geschädigte muss sich aber auch frei entfalten<br />
können, ohne von gut meinenden Dritten vor sich selbst geschützt zu werden, auch<br />
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