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WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International

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Symposium: Theologie und Seelsorge<br />

Vom freien und vom unfreien Willen<br />

Wiebke Dankowski<br />

In der Existenzanalyse gehen wir davon aus, dass der Wille<br />

eine besondere geistige Kraft des Menschen ist, durch die er<br />

sich als Person durch das Ergreifen seiner Freiheit realisiert und<br />

zu einem Akt entschließt. Dabei nimmt der gereifte freie Wille<br />

Bezug auf das Gewissen und die Grundbedingungen der Existenz.<br />

Doch wie verträgt sich nun diese These mit einer theologischen<br />

Einsicht, wie etwa Paulus sie im Römerbrief formuliert: „Das<br />

Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich<br />

nicht will, das tue ich.“<br />

Die Debatte um die Frage, ob der menschliche Wille frei oder<br />

unfrei ist, hat eine lange Tradition und ist keineswegs abgeschlossen<br />

angesichts von Aussagen aus der Naturwissenschaft,<br />

die der Rede vom unfreien Willen heutzutage wieder neue Argumente<br />

liefern.<br />

Schlüsselwörter: freie Wille, Theologie<br />

On free and not free will<br />

In existential analysis we presume that the will is a special power<br />

of mankind with which he can realize himself as a person<br />

by grasping freedom and deciding to act. In the course of<br />

doing so, the matured free will makes reference to conscience<br />

and basic conditions of existence.<br />

But how can this thesis be reconciled with a theological insight<br />

such as formulated in Paul’s Epistle to the Romans: “For what<br />

I do is not the good I want to do; no, the evil I do not want to<br />

do <strong>–</strong> this I keep on doing.”<br />

The debate on the question, whether the human will is free or<br />

not free, has a long tradition and is far from being finished considering<br />

the propositions of science supplying new arguments<br />

to talk about the will not being free.<br />

Keywords: free will, theology<br />

Der freie Wille spielt für das Menschenbild der Existenzanalyse<br />

und in ihrer therapeutischen Zielsetzung eine entscheidende<br />

Rolle. Was verstehen wir in der Existenzanalyse unter<br />

dem freien Willen? Dazu lassen Sie uns noch einmal einige<br />

Essentials benennen, damit wir diese dann in den Vergleich und<br />

ins Gespräch mit anderen Positionen bringen können.<br />

Im existenzanalytischen Verständnis ist der Wille eine geistige<br />

Kraft, durch die sich der Mensch als Person realisiert.<br />

Personal ist der Wille insofern, als darin Freiheit gelebt wird<br />

und sich die Person zu einem Akt entschließt. Inbegriffen ist<br />

damit, was ein so verstandener Wille nicht ist, nämlich ein<br />

psychodynamisches oder psychophysisches Reagieren, ein<br />

neurotisches oder süchtiges Verhalten. Alles nur Impulshafte,<br />

Treibende oder Drängende dürfen wir also nicht gleichsetzen<br />

mit dem Willen, weil darin keine Freiheit zum Zuge kommt.<br />

Der Wille entzündet sich nicht durch Bedürftigkeit, sondern<br />

kommt auf, wo sich ein Mensch von Wertvollem ansprechen,<br />

berühren läßt, wo er sich bewußt für einen Wert entscheidet<br />

und damit immer auch eine Wahl trifft als Ausdruck<br />

seiner Entscheidung, um sich dann entsprechend zu verhalten.<br />

Emotion, Entscheidung und Akt sind folglich auf das Engste<br />

miteinander verbunden. Solcher Art Willensverständnis läßt<br />

aufhorchen und weckt Sympathien, denn vor diesem Hintergrund<br />

ist der Mensch mehr als seine Instinkte und Triebe,<br />

mehr als ein ablaufendes genetisches Programm, als ein Reiz-<br />

Reaktions-Roboter oder als Summe seiner Lernerfahrungen.<br />

Es bleibt ihm die Möglichkeit, sich davon zu distanzieren und<br />

über sich selbst hinauszugehen, zu ex-sistieren, um bei allem,<br />

was auch festgelegt ist, doch unverwechselbar er selbst zu sein<br />

mit dem Potential der Entwicklung zu mehr Authentizität.<br />

Nun bin ich persönlich aber nicht nur Existenzanalytikerin,<br />

sondern auch Theologin und von daher gehalten, Aussagen der<br />

Existenzanalyse nicht einfach nur zu übernehmen, sondern sie<br />

auch ins Verhältnis zu setzen zu dem, was die theologische Tradition<br />

dazu sagt und insbesondere das jeweilige Bekenntnis (in<br />

meinem Fall das evang.-luth.), insofern man es sich zu eigen<br />

gemacht hat. Und so wie mir mag es auch anderen gehen, vermute<br />

ich, da es ja viele Anhänger der Existenzanalyse gibt, die<br />

eine religiöse, eventuell auch kirchliche Bindung haben.<br />

Ich frage mich also, ob man das Willensverständnis der<br />

Existenzanalyse mit der christlichen Theologie in Übereinstimmung<br />

bringen kann, ob es da Widersprüche gibt, ob<br />

überhaupt auf derselben Ebene gesprochen werden kann<br />

oder ob je anderes gemeint ist. Darüber heute ein wenig mit<br />

Ihnen nachzudenken halte ich für eine lohnenswerte Chance,<br />

um vielleicht bisher allzu Selbstverständliches zu prüfen<br />

und noch mehr Klarheit für sich selbst zu finden.<br />

Das Ringen um das Willensverständnis hat in der Theologie<br />

eine lange Tradition, die auf biblischen und philosophischen<br />

Aussagen gründet. Die Debatte darum gehört<br />

mitnichten zu den Nebenschauplätzen, sondern hat zentrale<br />

Bedeutung mit entsprechenden Auswirkungen auf die Themen<br />

Schuldfähigkeit des Menschen, Sündenverständnis,<br />

Erlösungsbedürftigkeit, Vorsehung. Ein ebenfalls damit verbundenes<br />

Thema ist das Verhältnis von Wille und Verstand.<br />

Um es gleich vorwegzunehmen: Die inzwischen jahrtausendealte<br />

Debatte ist weiterhin unabgeschlossen, ein einheitliches<br />

Verständnis vom Willen also nicht erreicht. Sie bis ins<br />

Detail wiederzugeben ist hier unmöglich, aber einige wichtige<br />

Positionen sollen heute zur Sprache kommen.<br />

Paulus<br />

Als erstes möchte ich auf einen Text von Paulus zu<br />

sprechen kommen, der im Blick auf die Willensfrage eine<br />

folgenschwere Wirkungsgeschichte angestoßen hat. Dieser<br />

102 EXISTENZANALYSE 29/2/2012

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